„Niemand kommt freiwillig hierher“

In Mali handelte Seyni Maiga mit Leder und Stoffen. Als 2012 die Al Qaida Timbuktu übernahm, musste er fliehen – und landete schließlich in Berlin. Hier darf er nicht arbeiten, singt aber in einer Refugee-Band und spielt im Neukölln Theater. (mehr …)

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Mittwoch, 16. September 2015

Von Tobias Maier

„Du lebst hier als wärst du im Gefängnis“, schildert der in Deutschland nur geduldete Seyni Maiga seine Situation. „Du darfst nicht arbeiten, du kannst dich nicht frei bewegen und du hast für ein normales Leben kein Geld – du weißt nicht mehr, wer du bist“. In seiner Heimatstadt Timbuktu führte der heute 26-Jährige ein gutes Leben. Er handelte mit Leder und Stoffen. Das Leder bearbeitete er und verkaufte es nach Ghana. Von dort importierte er Stoffe nach Mali. Doch als im April 2012 die Al Quaida Timbuktu übernahm, war für den Händler dort kein normales Leben mehr möglich.

Dass die Sharia eingeführt wurde, war noch das geringste Übel. Die Islamisten übten eine brutale Willkürherrschaft aus und kontrollierten das gesamte Leben der Menschen in Timbuktu. Junge Männer, die Gefallen an der Macht gefunden hatten, schikanierten die Einheimischen an jeder Straßenecke. Glaubt man dem Film „Timbuktu“ von Abderrahmane Sissako, war es sogar verboten zu lachen. Kein gutes Klima für Geschäfte. Da die Al Quaida den kompletten Warenverkehr kontrollierte, wurde es für Seyni unmöglich, weiterhin Handel zu treiben. Außerdem zwangen die Terrormilizen massenweise Jugendliche und junge Männer, für sie zu kämpfen. „Wenn sie sagten: ‚Folge uns in den Kampf!‘, konnte man nicht einfach nein sagen, dann wurde man erschossen. Alle hatten Angst“, erinnert sich Seyni.

In den Bürgerkriegswirren in Libyen

Also entschloss er sich, nach Algerien zu gehen. Da er dort keine Unterkunft fand, manchmal mehr als 24 Stunden am Stück arbeiten musste und sein karger Lohn kaum für die Fahrten reichte, die er unternehmen musste, um sein Visum zu erneuern, zog er weiter, nach Libyen. Dort geriet er in die Bürgerkriegswirren nach dem Sturz Gaddafis. Er wurde von Milizen festgenommen, eingesperrt und misshandelt. Schließlich kam er jedoch frei und fand Arbeit. Sein Boss konnte ihn aber bald nicht mehr bezahlen und schlug ihm einen Deal vor: Er organisiere ihm stattdessen eine Überfahrt nach Italien, dort habe Seyni bessere Chancen. Seyni willigte ein. Als er sah, dass die Schleuser mehr als 80 Menschen in ein Schlauchboot zwängten, hatte er keine Wahl mehr. Jetzt abzuspringen hätte bedeutet, von den Schleusern erschossen zu werden, weil sie Angst hatten, verraten zu werden.

Es kam aber noch schlimmer: Das Boot war schon einige Tage unterwegs, als plötzlich das Benzin ausging. Die Geflüchteten trieben auf dem offenen Meer, Wind und Wellen schutzlos ausgeliefert. Niemand glaubte mehr ans Überleben, alle harrten ruhig aus und beteten. Eine falsche Bewegung und das Schlauchboot wäre gekentert. Dass sie gerettet wurden, verdankten sie einem zufällig vorbeikommenden Frachtschiff, das eigentlich auf der Überfahrt nach Afrika war, die Geflüchtete nun jedoch nach Lampedusa brachte.

Das Gefühl haben, jemand zu sein

In Lampedusa bekam er vorläufige Papiere ausgestellt, sein Flüchtlingslager wurde jedoch aufgelöst und Seyni entschloss sich, nach Deutschland zu gehen. Wenn man ihm hier auf der Straße begegnet, mit Dreads, Sonnenbrille und breitem Grinsen, lernt man ihn als herzlichen, lebensfrohen und aufmerksamen Menschen kennen. Kennt man aber seine Geschichte, dann weiß man, was er alles zurücklassen und welche Qualen er aushalten musste, um in einer Stadt zu landen, in der er nicht arbeiten darf und keinen dauerhaften Wohnsitz hat. Aber Seyni ist nicht der Typ Mensch, der sich davon entmutigen ließe: Er singt in der Reggae-Band Lomnava – Refugees & Friends, spielt Fußball und besucht einen Deutschkurs. Wenn er durch die Stadt läuft, trifft er an fast jeder Straßenecke einen Bekannten.

Als Olek Witt, Intendant beim Neuköllner Theater der Migranten ihn fragte, ob er an einer Inszenierung von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ mitwirken möchte, war Seyni froh, eine Rolle übernehmen zu können: „Ich hatte wieder das Gefühl, jemand zu sein. Ich habe eine gute Botschaft transportiert“. Darüber hinaus habe er viele neue Leute kennengelernt: „Wir waren wie eine große Familie – ich habe in der Zeit auch viel Deutsch gelernt.“

Deutsch ist seine vierte Fremdsprache

Deutsch lernen ist, mal abgesehen von der komplizierten Grammatik, gar nicht so leicht für einen Menschen der gerade durch die Hölle gegangen ist und sich in einer Situation wiederfindet, in der er überhaupt keine Kontrolle über seine Zukunft hat. „Wenn ich nichts zu tun habe, sitze ich da und denke und denke und denke – aber das alles führt zu nichts“, erzählt Seyni. „Wenn ich dann im Deutschunterricht plötzlich gezwungen bin, zu denken, fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren.“ Da hilft es auch nichts, dass Deutsch bereits die vierte Fremdsprache ist, die er lernt. In einer Stadt wie Berlin lässt sich die Sprachbarriere zwar relativ lässig umschiffen – allerdings nur so lange man nicht arbeiten muss.

Keine Arbeit zu haben bedeutet für Seyni auch, keine Rolle in dieser Gesellschaft zu spielen, die ihm Selbstbewusstsein gibt. Es hält ihn davon ab, seine Zukunft zu planen oder eine Familie gründen zu können. Außerdem fehlt ihm Geld für ein normales Leben. Menschen wie ihm biete sich da eigentlich nur ein Ausweg: „Eigentlich hat man keine andere Wahl, als zu stehlen oder Drogen zu verkaufen“. Es sei ja nicht so, dass irgendjemand freiwillig in der Hasenheide Gras verkaufe. „Keiner von denen kommt freiwillig hierher. Die Menschen fliehen, weil sie in ihren Heimatländern nicht mehr leben können.“

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Kommentare:

  • bla sagt:

    Das ist ja alles ganz nett geschrieben. Und es ist sicherlich gut, wenn man lesen kann, wie sich ein Flüchtling in Deutschland und Europa fühlt. Mir fehlen hier aber wirklich einige Angaben, die zur Gesamtsituation einfach dazugehören.

    Hat er Asyl beantragt? Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, was ist daraus geworden? Was ist mit „geduldet“ gemeint? Tatsächlich das rechtliche Konstrukt „Aussetzung der Abschiebung“ oder eine faktische Duldung? Warum wird er geduldet und nicht nach Italien zurückgeführt? Warum ist er überhaupt nach Deutschland gekommen – war er nicht in Italien schon sicher? Und nicht zuletzt: Was erwartet er von dem Staat, in den er gekommen ist?