Ein Theatersaal als Nazi-Möbellager

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Anruf in die Vergangenheit: Der Heimathafen Neukölln arbeitet seine Rolle während der Nazi-Zeit auf.

Während des Dritten Reiches wurde der Besitz von deportierten Juden in Möbellagern verwahrt. Auch die Räume des heutigen Heimathafen Neukölln wurden so zweckentfremdet. Gemeinsam mit engagierten Neuköllnerinnen arbeitet die Kulturstätte in einem neuen Theaterstück nun seine Nazi-Vergangenheit auf. (mehr …)

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Dienstag, 22. September 2015

Fotos: Verena Eidel

Die Stuhlreihen im Saalbau des Heimathafens Neukölln füllen sich. Es ist Premierennacht. Leise Musik bahnt sich ihren Weg durch den Raum, während sich mehrere Paar Füße trappelnd vom Eingangsbereich in Richtung Bühne bewegen. Kleine Lampen auf fahrbaren Archivtischen werden angeknipst und werfen ein schwaches Licht auf die Gesichter der acht Darsteller. Hektisch, fast chaotisch, schieben sie die Tischchen über die dunkle Bühne, während die Musik immer lauter wird, euphorisch von fast bedrohlicher Intensität. Wie Suchende stehen sie dort auf der Bühne, bereit nach Anhaltspunkten aus einer sehr dunklen Vergangenheit zu graben.

Denn der Saalbau des Heimathafens diente bis 1942 den Nazis als Möbellager. Hier wurde der Besitz deportierter Juden aus Neukölln zwischengelagert, bevor er an die deutsche Bevölkerung günstig verkauft wurde. Bis heute ist allerdings wenig über die genauen Hintergründe und die Menschen bekannt, denen die Möbel einst gehörten. Daher riefen Julia von Schacky und Stefanie Ähnelt, Leiterinnen des Heimathafens, eine Initiative ins Leben, bei der Neuköllner knapp neun Monate genau diese Hintergründe recherchierten. Das Ergebnis ihrer Recherchen wird nun in dem Doku-Theaterstück „Aktion N!“ vorgestellt.

Eindrückliche Recherche-Ergebnisse

In dem „Neuköllner NS-Untersuchungsausschuss“ werden die Überreste des nicht verloren gegangenen Wissens wie Puzzlestücke zusammengefügt. Insgesamt 21 Hobbyforscher, von denen acht als Darsteller auf der Bühne zusehen sind, erzählen von ihrer Reise in die Vergangenheit. Das Landeshauptarchiv in Potsdam diente ihnen dabei als Haupt-Recherchequelle. Die Geschichte des Saalbaus lässt sich allerdings bisher nur auf fünf Familien zurückverfolgen: Max und Gertrud Mandel, Hedwig und Emil Wolff, Simon Luft, Emil und Erna Pese und Paul Leske. Menschen, die einst in der Sanderstraße, dem Kottbusser Damm, der Emser Staße und der Karl-Marx-Straße wohnten. Der Zuschauer taucht ein in die Szenen dieser Menschen in ihren letzten Tagen vor der Deportation. Sie saßen in ihren Wohnungen und schrieben Listen: „2 Stühle, 1 Tisch, 4 Gardinen“. Gertrud Mandel trägt „10 Seidenunterkleider, 5 Paar Seidenstrümpfe“ ein.

Geschichte auf dem Seziertisch: Wie ging es den Darstellern während ihren Recherchen?

Geschichte auf dem Seziertisch: Die Darsteller berichten von ihren Erfahrungen während der Recherche.

Näher gebracht werden die einzelnen Geschichten durch die Darsteller, die von ihren Erlebnisse während der Recherchen berichten. Eine junge Neuköllnerin erzählt, wie sie zum ersten Mal das Brandenburgische Landeshauptarchiv betritt und sich auf eine Zeitreise begibt, als sie das alte Papier der Akten anfasst. Bei ihren Nachforschungen entdeckt sie, dass eine Frau verzweifelt einen Sack Kartoffeln als ihren Besitz aufführte. Eine ältere Dame erzählt Geschichten von Ihrer Mutter, die bei Gewitter an Bombenangriffe erinnert wurde und sich auf den Boden warf. Sie konnte niemals wirklich über die Zeit sprechen und „dann fragt man ja nicht weiter“. Die Verdrängung der Deutschen thematisierend wird in Retrospektive von „Evakuierten“ gesprochen, deren günstige Möbel man in schlechten Zeiten gut gebrauchen konnte.

Umsatz durch Enteignung

Dem Zeitgeist auf der Fährte stellen die Neuköllner Ermittler Szenen nach, in denen die damaligen Bewohner Neuköllns zu heiteren Versteigerungen der „günstigen Judenmöbel“ gingen. Sie machen begreiflich, wie das System der „Vermögensverwertung“ funktionierte. Geschätzt auf 654,50 Reichsmark findet sich der Besitz der Familie Pese in einer Liste wieder, die säuberlich aufgeführte Pfennigbeträge der verhökerten Stücke enthält. So gipfelt das Stück in einer Abrechnung: 220 Milliarden US- Dollar geraubten Jüdischen Eigentums versus 71 Milliarden gezahlter NS-Unrechtsentschädigung. Eine unbeglichene, unbegleichbare Schuld.

Die Aufführung hinterlässt einen vielseitigen, wenn auch bruchstückhaften Eindruck. Es geht um die Schuldfrage, aber auch um die Nähe, die in Vergessenheit geraten ist. Der Abend eröffnet Fragen und hinterlässt ein mulmiges Gefühl. Gehen wir nicht täglich selbst durch die Straßen dieser Vergangenheit? Leben wir in Wohnungen, in denen vielleicht ein Mal ein Mensch eine solche Liste anlegte? Ein Sack Kartoffeln für die Nachwelt. Mit ihren zahlreichen, sehr persönlichen Details über die Menschen des damaligen Neuköllns, bringt die Vorstellung diese unvorstellbare Vergangenheit ein Stückchen näher und zeigt doch wie schwierig es ist diese Verbindung wieder herzustellen.

1€ pro verkaufter Theaterkarte wird für Stolpersteine gespendet, die für die Neuköllner Familien eingesetzt werden sollen. Die nächste Vorstellung von „Aktion N!“ findet am 25. September um 20:00 Uhr im Heimathafen Neukölln statt.

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