Mit Isomatten unterm Kreuz

Zwischen 4.000 und 10.000 Menschen leben in Berlin auf der Straße, bis zu 25.000 haben keine feste Wohnung und gelten als wohnungslos. Einmal in der Woche finden einige von ihnen in der Philipp-Melanchthon-Kirche einen Schlafplatz. Für die medizinische Versorgung sucht die Initiative dringend einen Arzt.

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Montag, 25. Dezember 2017

Von: Judith Jenner

Es ist eine kalte, klare Vollmondnacht in Neukölln mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Um kurz vor acht beeilen sich die letzten gut gekleideten Konzertbesucher, ihre Fahrräder vor der Philipp-Melanchthon-Kirche in der Hertastraße abzustellen, um rechtzeitig zu Beginn der Vorstellung in der Kirche zu sitzen.

Zugleich biegt ein Grüppchen mit Tüten bepackter Menschen um die Ecke und folgt den Schildern zum Hintereingang. Dort wird wie jeden Sonnabend zwischen Mitte November und Mitte März um halb zehn die Tür zum Nachtcafé öffnen. Doch oft bildet sich schon viel früher eine Menschentraube vor der Tür.

Essen, schlafen, duschen

Die Kirche bietet Menschen ohne festen Wohnsitz einen Schlafplatz an. Sie bekommen ein warmes Abendessen, danach eine Isomatte und eine Decke, mit der sie sich im Vor- und in den Seitenräumen hinlegen können. Auch die Möglichkeit, zu duschen gibt es sowie gespendete Kleidung.

Zwischen 30 und 40 Menschen kommen, es waren aber auch schon mal über 80, erinnert sich Kati, die bereits seit neun Jahren jeden Winter im Nachtcafé arbeitet. „Das war vor zwei oder drei Jahren, als es Mitte März einen Wintereinbruch gab und plötzlich wieder schneite““, sagt sie. Doch anstatt Menschen an der Tür abzuweisen, wurden kurzerhand Kartons gefaltet und als Mattenersatz verwendet.

Ansetzen, wo es fehlt

Unter der Woche arbeitet Kati als Tischlerin. Mit dem Job im Nachtcafé verdient sie sich etwas dazu. Früher jobbte sie als Veranstaltungstechnikerin in Clubs, doch der jungen Frau mit den blonden Dreadlocks gefällt es, „da anzusetzen, wo es fehlt“. Sie mag den Kontakt mit den Menschen und findet: „Die Leute hier sagen echt oft danke.“

So geht es auch Eric: „Es tut gut, etwas zu tun, was anderen hilft. Auch in Stresssituationen können wir uns als Betreuer aufeinander verlassen.“
Dass die vier Helfer, die von abends um neun bis morgens um zehn Wache schieben, ein gut eingespieltes Team sind, sieht man: Während einer den Aufschnitt für die Brötchen auf Platten drapiert, stellt der andere das Geschirr in den Raum, der bereits für den Adventsbasar am nächsten Morgen geschmückt ist.

Wegen des Konzerts müssen die Besucher des Nachtcafés heute in einem anderen Raum essen. Dafür gibt es ausnahmsweise Steaks und Würste vom Grill, übrig geblieben von einer Gemeinde-Veranstaltung.

Niemals vor verschlossener Tür

Kurt Niedtner kann sich nicht erinnern, dass das Nachtcafé wegen eines Konzerts oder Gottesdiensts in den letzten mehr als 20 Jahren geschlossen hatte. Er ist als Gemeindekirchenratsmitglied für den administrativen Teil zuständig. Das heißt, er macht die Verträge mit den Betreuern und wirbt Zuschüsse beim Kirchenkreis ein, da das Geld vom Bezirksamt nicht ausreicht. Außerdem helfen Spenden.

Sogar als Weihnachten 2016 auf einen Sonnabend fiel, hatte das Nachtcafé geöffnet und servierte ein Festessen für die Obdachlosen, während im Kirchsaal der Mitternachtsgottesdienst abgehalten wurde.

Welche Umstände die Menschen in die Obdachlosigkeit getrieben haben, das ist selten Thema im Nachtcafé. Alkohol- und Drogensucht sowie psychische Erkrankungen sind die sichtbarsten. „Wenn einer reden will, dann merkt man das schon, aber wir bohren nicht nach“, sagt Kati.
In den letzten Jahren kommen immer mehr Migranten, vor allem aus Osteuropa. Mit ihnen ist es schon aus sprachlichen Gründen schwierig, ins Gespräch zu kommen, sagt Kati. Doch wer ein Gespräch oder eine soziale Beratung braucht, dem helfen die Betreuer weiter. In den vergangenen Jahren war auch immer ein pensionierter Arzt da, der zum Beispiel Wunden versorgte. Für diese Saison sucht das Nachtcafé händeringend nach Ersatz.

Meister der Deeskalation

Damit das Zusammenleben in der Obdachlosenunterkunft friedlich verläuft, gibt es klare Regeln: keinen Alkohol, keine Drogen und keine Handgreiflichkeiten. Sonst droht Hausverbot. Tiere sind willkommen, sofern sie stubenrein sind und niemanden belästigen. Neben Hunden zählte eine Zeit lang auch ein Kaninchen zu den Stammgästen.

Mit den Jahren sind Kati und die anderen Betreuer „Meister der Deeskalation“ geworden, wie sie es ausdrückt. Kleine Meinungsverschiedenheiten können sich schnell aufbauschen. Gerade beschwert sich ein kräftiger Mann aufgebracht, dass sein Nachbar vier Würste auf dem Teller hat und er nur eins. Mit der Geduld einer Kindergärtnerin klärt Kati die Situation. Wenig später fragt der Streithahn reumütig: „Darf ich jetzt schlafen gehen?“

Während die ersten Besucher bereits die Matten holen, ertönt der Schlussapplaus im Kirchenraum. Die Konzertbesucher schwingen sich wieder auf ihre Fahrräder und im Nachtcafé kehrt langsam Ruhe an. Einige Nachzügler werden später noch klingeln. Morgens holen Kati und Eric Brötchen, und bevor um 11 Uhr der Gottesdienst beginnt, sind die Besucher des Nachtcafés wieder auf der Straße.

Das Nachtcafé in der Philipp-Melanchthon-Gemeinde in Neukölln freut sich über Spenden unter der Kontoverbindung Ev. Kirchenkreisverband Süd, Verwaltungsamt, Bankinstitut: Evangelische Bank eG IBAN: DE58 5206 0410 6603 9000 96 Stichwort: Nachtcafe. BIC: GENODEF1EK1

Wer als Arzt ehrenamtlich im Nachtcafé helfen möchte, kann sich an Kurt Niedtner wenden: nacht.cafe@nordwest-neukoelln.de