Ein Karaokeabend im Boddin-Eck

Mehr Drama in der Stimme geht nicht: Andrea ist Karaoke-Profi.

Jeden ersten Freitag im Monat wird im Boddin-Eck Karaoke gesungen bis die Gläser klirren. Angst vor dem Scheitern muss hier niemand haben. Denn: Karaoke ist ein sozialer Gemeinschaftsakt: Wenn einer die Tonspur verfehlt, springen die anderen bei. 

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Text:

Donnerstag, 3. Mai 2018

Text: Magdalena Schrefel
Fotos: Anke Hohmeister 

KARAOKE (1)
Was an diesem Abend gesungen werden wird: Ibiza (Ibo), What’s love got to do with it und Simply the best (Tina Turner), Mit 18 (Marius Müller-Westernhagen), Tonight (Tina Turner und David Bowie), I’m gonna be (The Proclaimers), Die kleine Kneipe (Peter Alexander), Where the wild roses grow (Nick Cave und Kylie Minogue), Like a Rolling Stone (Bob Dylan).

BODDIN-ECK
Bis zum 1.9.2017 hieß das Boddin-Eck noch Alptraum und das sei es auch gewesen, sagt Jacky, die, nach einer kurzen Zeit seit dem letzten Herbst als Geschäftsführerin, den Laden zum 1.2.2018 als Inhaberin übernommen hat.

KARAOKE (2)
Karaoke ist ein Kofferwort aus dem Japanischen, dessen Bestandteile so viel wie „leer“ und „Orchester“ bedeuten. Und ein Japaner war es auch, der in den 1970er Jahren Karaokemaschinen erfunden hat. Sein Name war Daisuke Inoue. Seither hat sich Karaoke rasant ausgebreitet. Während in Ländern wie Japan oder China Karaoke eher nicht vor dem großen Publikum, sondern in von Gruppen eigens dafür angemieteten Räumen gesungen wird, gibt es in europäischen Ländern Großraumkaraoke – oft in Kneipen oder Bars. Jeden ersten Freitag im Monat auch im Boddin-Eck.

Haben Spaß bei der Arbeit und singen selbst gerne: die Barfrauen Viola (links) und Ute.

JACKY
Jacky ist die Inhaberin, frischgebacken seit gestern, sagt sie. An der Wand hängt ein Foto von Jacky mit langen roten Haaren. Jetzt trägt sie die Haare raspelkurz und grau, an ihren Ohren baumeln Kreolen. Das sieht toll aus. Sie sieht nur so aus, weil sie krank war, sagt Viola. Dass sie ihren Krebs besiegt hat, sagt sie auch noch. Eine um Worte verlegene Antwort: Gratuliere. Kurzes Schweigen. Nächste Frage: Jacky, wann hast du angefangen, in Kneipen zu arbeiten? Schon seit immer, sagt Jacky. Das habe mit einem Aushilfsjob angefangen, in der Küche, dann über den Service hinter den Tresen.

VIOLA
Ich hab jetzt keine Zeit, ich muss ein Interview machen, sagt Viola in ihr Telefon und verabschiedet sich. Sind wir per Du oder Sie? Du, antwortet Viola. Bei uns isset einfach. Auf dem Tresen vor ihr steht ein Café Latte, daneben ein Aschenbecher, eine Schachtel Zigaretten. Noch sitzt sie auf einem Barhocker, es ist Schichtübergabe. Viola arbeitet immer nachts. Hinter dem Tresen stehe sie, seit sie sich in ihrem erlernten Beruf als Fleischerin den Arm verletzt habe. Kurz nach der Wende kam sie aus dem Saarland nach Berlin, eine Rucksack-Berlinerin, sagt Jacky über Viola. Die beiden arbeiten erst seit der Übernahme im letzten Jahr zusammen. Hört man sie miteinander scherzen, denkt man, es wären schon Jahrzehnte.

Heilig für alle Anwesenden: Die Karaoke-Bibel.

HINTERM TRESEN
Einmal hinterm Tresen, immer hinterm Tresen, sagt Viola. Wenn mir einer blöd kommt, sagt sie, dann kann ich dem auch blöd kommen. Hier kann ich sagen, was ich will. Man ist hier nicht nur Barfrau, man ist hier auch Psychologin, sagt Jacky. Und manchmal müsste man für die Geschichten, die man zu hören bekommt, Schmerzensgeld verlangen. Sie lacht. Oder ein Buch darüber schreiben? Ja, hab ich auch schon überlegt, sagt Jacky. Aber wozu ein Buch schreiben, wenn man zufrieden ist mit dem, was man macht. Sind Barfrauen anders als Barmänner? Nee, sagt Viola, es gibt schon auch gute Männer. Alkohol auf Arbeit gibt es für beide nicht. Wenn man hinterm Tresen betrunkener als davor ist, dann stimmt doch was nicht.

Susi sucht in den Listen nach ihren Lieblingssongs.

KARAOKE (3)
Es ist der erste Freitag im Februar 2018, halb neun Uhr abends. Zwei Bildschirme sind zur Projektion der Texte aufgebaut, DJ Olaf legt die Musik auf. Zwei Ringmappen wandern durch den Raum, Seiten um Seiten voller Titel, die zur Auswahl stehen. Wer singen will, notiert seinen Namen und den Titel des Songs, der Zettel geht an Olaf, der die Abfolge bestimmt. Die Kneipe ist noch nicht voll, aber gefüllt. Immer mehr Menschen werden im Laufe des Abends vorbeikommen. Manche werden im Vorderraum bleiben – da, wo Karaoke gesungen wird. Andere werden im Hinterstübchen verschwinden – zum Billardspielen oder Vorglühen. Manche kennen einander, viele kommen regelmäßig. So auch die drei, die ihre Karaoke-Wünsche unter den Namen Mutter, Mütze und Jule abgeben, die tatsächlich miteinander verwandt sind und die den Abend über brillante Darbietungen geben werden – von deutschen Schlagern bis zu Tina Turner.

Mütze braucht keine Bildschirm-Texte mehr, er hat Elvis im Blut.

ALKOHOL
Ihren Mexikaner musst du mal probieren, meint Jacky und deutet auf Viola. Oder Nutella! Nutella? Haselnusslikör sei das. Schmeckt wie Nutella, ehrlich, dat ist lecker. Es gibt Bier, Wein, Spirituosen, auch alkoholfreie Getränke. Sogar Kaffee und Tee. Die Bestellungen vermerkt Jacky auf Deckeln, eine Armada von Zetteln, die meisten tragen Namen. Wen sie nicht kennt, bei dem stellt sich Jacky vor, schüttelt ihm die Hand.

KARAOKE (4)
Ob sie auch singen, fragt ein Gast zwei junge Frauen, die aus dem Hinterzimmer nach vorne an die Bar gekommen sind, um noch ein Getränk zu bestellen. Nein, sagt die eine. Sicher nicht, die andere.

WOLFGANG
Am Nebentisch sitzt Wolfgang mit zwei Kumpels. Aus einem 2500-Seelen-Dorf in der Nähe von Stuttgart seien sie gekommen. Alles schräge Vögel hier, sagt Wolfgang. Aber gut. Zufällig sind er und seine Runde, die im Laufe des Abends immer größer werden wird, hier gelandet. Leidenschaftlich und laut singen sie mit, wenn andere ihren Auftritt haben – so laut, dass Mütze ihn sogar einmal auffordert, mitzusingen. Komm, wir machen zusammen, sagt Wolfgang. Es wird nicht ihr letztes Duett in dieser Nacht sein. Seine Kumpels bleiben am Tisch sitzen.

JÜRGEN UND ANDREAS
Jürgen und Andreas sitzen am Tresen. Sie beobachten das Geschehen, aufmerksam, kritisch. Dass er selber Musiker gewesen sei, erzählt Jürgen, Gitarre war mein erstes Instrument, mit fünf Jahren habe ich angefangen zu spielen. Heute wolle die Hand verletzungsbedingt nicht mehr. Andreas war Fotograf, ursprünglich aus Frankfurt, sei er in den 1970er Jahren nach Berlin gekommen und habe als Vertreter für Kameras gearbeitet. Kurz vor meiner Verrentung, sagt Andreas, waren wir in einer gemeinsamen Maßnahme. Von der Agentur für Arbeit verordnete Alkoholprävention im Kiez unter dem Namen Kafka hätten sie gemacht. Der Schriftsteller sei einer seiner Lieblingsschriftsteller, erzählt Andreas auch noch.

Niemand singt Tina Turner-Songs besser: Sobald die Musik beginnt, wird Susi zur Rock-Legende.

KARAOKE (5)
Du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau, singt der junge Mann, großgewachsen, hippe Brille. Aber so recht will er den Ton nicht treffen. Bochum, grölt er, ich komm aus dir. Und plötzlich ist er nicht mehr allein. Wolfgang ist aufgestanden, dem muss ich helfen, hatte er gesagt. Und nicht nur Wolfgang, die ganze Kneipe setzt jetzt ein, singt mit, hebt die Stimme des jungen Mannes auf die richtige Spur. Das ist, was Karaoke auch ist. Ein sozialer Gemeinschaftsakt. In dem man niemals alleine ist. Karaoke heißt: die Einzelne kann sich positiv hervortun, aber keiner muss vor allen scheitern. Denn wenn du richtig schlecht bist, fangen dich die anderen auf, eine Vielzahl von Stimmen, die dich hochhebt oder runterdrückt, die deine Stimme auf die richtige Bahn lenkt.

Einfach für alle: Karaoke-Texte in Übergröße.

KARAOKE (6)
Trotz allem ist der junge Mann froh, als sein Auftritt vorbei ist. Die letzten Takte erklingen. Es wird geklatscht, wenn auch etwas verhaltener als bei den anderen. Gemeinsam hat man es geschafft. Der junge Mann nimmt einen großen Schluck aus seinem Glas. Seine Freunde lachen, er lächelt zurück. Es wird noch ein langer Abend werden.

Die nächsten Karaokeabende finden am 4. Mai, am 1. Juni und am 6. Juli 2018 im Boddin-Eck in der Hermannstraße 223 statt.