Die Stadtführerin aus dem Lottoladen

Bianca Skamrahl vor ihrem Lottoladen

Bianca Skamrahl vor ihrem Lottoladen

Hinter der Theke im Lottoladen in der Anzengruberstraße erlebt Bianca Skamrahl den wilden Mix der Kiezbewohner. Und ihre Stadtralleys? Sind Entdeckungsreisen!
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Dienstag, 17. November 2015

neukoellner.net: Bianca, seit wann wohnst du in Neukölln und was hat dich am Bezirk gereizt?

Bianca Skamrahl: Das war ganz einfach, weil ich 2003 in Friedrichshain keine Wohnung mehr gefunden habe. Gereizt hat mich damals hier gar nichts! Ich hab halt ne günstige, aber sehr geile Wohnung in der Weserstraße gefunden. Da bin ich hierher gezogen und hab festgestellt: Das ist nen netter Kiez! Also nein, ein richtiger Kiez war das ja damals noch gar nicht. Aber ich hatte damals schon alles vor der Tür gehabt. Und da ich schon sehr bunt leben mag, hab ich es dann halt schnell mögen gelernt. Also ich komm aus Hamburg und hab auf der Schanze gelebt und da war es damals auch so: alles sehr bunt. Dann bin ich in ne bessere Wohnung in der Sonnenallee gezogen und seitdem lebe ich hier und hoffe hier zu bleiben.

Und hatten Freunde und Bekannten damals Vorbehalte?
Total viele Fragezeichen! In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gab es viel diese Klischees: Uh, wie kannst du bloß nach Neukölln ziehen?! Ist das nicht schwierig da? Und viele waren schon verwirrt und irritiert. Aber wer damals die Entwicklung in Friedrichshain mitbekommen hat, das ist auch horrend hochgegangen da! Viele haben dann auch gemerkt, es geht nicht anders! Aber trotzdem bin ich die erste Zeit immer eher zu denen gefahren und naja, irgendwann ist das dann halt umgeschlagen. Sie haben gemerkt, das ist ja gar nicht so schlimm. Dann sind die halt auch mal hier gewesen. Was in der Tat schwieriger war, mal nen Kaffee trinken zu gehen. Das kam erst mit der Zeit.

Ein gemütliches Café zu finden, war anfangs gar nicht so leicht

Ein gemütliches Café zu finden, war anfangs gar nicht so leicht

Über Neukölln kursierten ja schon immer viele Klischees bezüglich Kriminalität und Drogen…
Diese Klischees höre ich heute immer noch! Also dass die Leute denken: Gott oh Gott, kann man da überhaupt wohnen? Natürlich weiß ich, wenn ich am Hermannplatz aussteige, dass da mit Drogen gedealt wird. In der Hasenheide auch. Aber das stört mich halt irgendwie nicht. Also ich bin weder angegriffen worden, noch hab ich irgendwie unangenehme Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel Rudow finde ich da viel unheimlicher.

Die Probleme wandeln sich, aber irgendwie bleiben sie sich auch gleich. Zum Beispiel die Weserstraße ist ja jetzt eine zweite Simon-Dach-Straße geworden. Der Dreck und die Lautstärke! Früher war es eine sehr düstere Straße und heute ist es halt eine Ausgehstraße. Ob jetzt Dönerpapier oder sonst irgendwas auf der Straße liegt oder überall Coffee-to-go Becher rumstehen. Also Dreck ist Dreck!

Mit der Zeit kamen die Cafés, aber auch die Verdrängung. Wie hast du diesen Prozess hier erlebt?
Naja, das kam hier so Stück nach Stück. Also das Freie Neukölln an der Pannierstraße war ja eine der ersten Kneipen. Und jetzt dachte ich: Huch, werden die auch schon verdrängt! Neukölln entwickelt sich wie alle anderen Szenebezirke. Aber im Vergleich zum Prenzlauer Berg oder Friedrichshain gibt es eben auch noch die vielen Alten hier. Also ist die Verdrängung noch nicht so groß. Dort ist es vielleicht für Besucher ganz nett, aber ich möchte da nicht mehr wohnen, das kann ich sagen!

Natürlich ist Neukölln im Wandel. Aber ich empfinde das so, dass noch viel, viel mehr Leute dazu gekommen sind. Spanier, Niederländer, aus Skandinavien ganz viel. Ich habe nicht gewusst, dass es so eine große italienische Community hier gibt. Und ich finds halt cool!

Du stehst mehrmals die Woche im Zeitschriften- und Lottoladen in der Anzengruberstraße. Wer begegnet dir dort?
Man kriegt wirklich alle mit! Es kommen auch viele ältere Leute, viele Alteingesessene. Da ist die Witwe vom ehemaligen Neuköllner Polizeichef, 84 Jahre, Perückenträgerin aus dem vierten Stock, die immer ausschaut, als ob sie gerade aus nem Modejournal gefallen ist. Aber wenn sie dann den Mund aufmacht, da fliegt einem reinste Berliner Schnauze um die Ohren. Die Frau ist der Hammer! Und die ist immer am Meckern, immer!

Oder auch der türkische Anwalt, der Leute vertritt, die regelmäßig auf der BILD-Zeitung oder der B.Z. zu sehen sind. Oder der „Pudelmann“. Die Pudel kommen meist drei Minuten vor ihm in den Laden. Und der Kleine kotzt immer, weil der Pudelmann nie sieht, was der alles frisst, weil der immer vorweg läuft. Vor allem kotzt der mit Vorliebe in den Lottoladen rein.

Nun arbeitest du ja nicht nur im Lottoladen, sondern veranstaltest auch kulturelle Stadtralleys. Was ist da die besondere Perspektive, die du den Leuten anbietest?
Ich stelle ihnen geschichtliche Fragen und leite sie damit durch den Kiez. Es gibt ja kaum einen Stadtteil, wo so viele verschiedene Religionen vertreten sind. Oder auch die Geschichte von Neukölln als Arbeiterbezirk, die heute noch zu sehen ist. Sie müssen Orte aufsuchen, genauer hinschauen und Wege gehen, die sie sonst nicht gehen würden. Das kann man nicht einfach im Internet nachschauen. Vielleicht trifft man auch jemanden, der einem etwas mehr noch erzählen kann. Dadurch hoffe ich, den Menschen ein anderes, direkteres Bild vermitteln zu können.

Ich versuche meinen Ralleyteilnehmern immer zu vermitteln: Ihr braucht keine Angst haben! Sie werden in ein türkisches Café und in ein Restaurant geschickt, um in Erfahrung zu bringen, wie etwas auf Türkisch heißt. Also ich will schon, dass die Leute in Kontakt treten.

Gibt es eine Aufspaltung in vermeintlich türkische, arabische oder deutsche Läden?
Also ich glaube, dass es sich ein wenig auflöst. Ich würde auch nicht sagen, dass sich jetzt die Schischa-Bars oder die türkischen Cafés explizit öffnen, aber es laufen doch öfter auch mal „Bio-Deutsche“ da rein. Und es gibt ja zum Beispiel auch das Zimt & Mehl am Weigandufer, wo immer viel los ist, was ja auch von Türken betrieben wird. Und dann erlebe ich oft im Lottoladen die vorurteilsbelasteten „Ich hab ja nichts gegen, aber…“-Leute, die dann den Bäcker total toll finden.

Ich glaube ja, im Grunde ist es vielen Menschen egal. Vielleicht interessiert es den Schischa-Café-Besitzer auch einfach nicht, ob da nen Deutscher drinne sitzt oder nicht. Das „Os“-Restaurant an der Anzengruber- Ecke Donaustraße, das hat ewig Spiele und Spielkonsolen verkauft und jetzt ist da nen Restaurant für moderne arabische Küche drin. Das ist ein und derselbe! Und der möchte halt gar nicht seine Landsleute anziehen sagt er, weil die wollen immer noch günstig, günstig, günstig und er hat aber total Bock auf gutes Essen!

Also meiner Erfahrung nach sind die wenigsten Zugereisten erst mal abweisend oder bauen irgendwelche Parallelgesellschaften auf. Das ist halt schon immer ein Stadtteil gewesen, wo eben viele Migranten inklusive Deutschen wohnen und das ist für mich bunt, das mag ich!

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