Mythos Karl-Marx-Straße

2010 ging es mit der ersten Baustelle los, bis 2021 wird die Karl-Marx-Straße noch saniert. Wie sehr sie sich dadurch verändern wird, ist noch nicht abzusehen. Wir reisen in der Zwischenzeit durch die letzten zwei Jahrhunderte des einzigartigen Boulevards: Bilder von Konsum, Zerstörung und „Musicke“ auf der Karl-Marx-Straße.

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Mittwoch, 5. Oktober 2016

Dass eine Straße westlich des ehemals eisernen Vorhangs nach dem größten Theoretiker des Sozialismus und Kommunismus benannt ist, stößt oft auf große Verwunderung. Denn schließlich ist sie eine der Hauptgeschäftsstraßen Neuköllns und nach Verkaufsfläche sogar die drittgrößte Einkaufsstraße Berlins. Und für diese Konsummeile steht einer der größten Kritiker des Kapitalismus Patron? Die Karl-Marx-Straße – ein Gegensatz, typisch Neukölln, an dem groteskerweise Kaiser Wilhelm und mal wieder die Nazis Schuld sind.

Raue Sitten herrschen in Rixdorf

1910 versprüht die Bergstraße Ecke Emser Straße gemütliches Flair, heute gibt’s triste Baustelle.

1874 trägt die Straße zwei Namen. Vom Hermannplatz bis zum Richardplatz heißt sie „Berliner Straße“, im weiteren Verlauf Richtung Rudow wird sie „Bergstraße“ genannt. Ab 1890 wird der Ruf der Gemeinde Rixdorf immer schlechter. Der damalige Ausspruch „In Rixdorf ist Musicke“ münzt sich nicht nur auf die zahlreichen Brauhäuser und Tanzkneipen. Besonders auf der Bergstraße herrschen raue Sitten mit Prostitution, Diebstahl und Straßenhändlern. Sie geben für Rixdorf und dessen Bürgermeister Hermann Boddin ein schlechtes Bild ab. Boddin regt daher eine Namensänderung an, die von seinem Nachfolger Kurt Kaiser 1912 durchgebracht wird. Aus Rixdorf wird Neukölln.

Ab der Gründerzeit beherbergt die Straße neben sämtlichen großen Kaufhausketten wichtige institutionelle Bauten, wie das Rathaus, das Amtsgericht, die Kaiserliche Post und dem 1908 errichteten Gemeinschaftshaus samt Passage-Kino, das sich noch heute rühmt, einen im Original erhaltenen Kinosaal von 1909 zu besitzen. Dazu steht im südlichen Teil der Karl-Marx-Straße die neugotische, evangelische Magdalenenkirche. Die U-Bahn (zunächst Nord-Süd-Linie, dann C1, ab 1966 die U7) verläuft unterirdisch mittlerweile auf der gesamten Länge der Straße.

Umbenennung nach dem Krieg

Die schmucke Buchhandlung ist einem Handyladen gewichen: Karl-Marx-Straße 168.

Aber warum änderte man Berliner Straße und Bergstraße ausgerechnet in „Karl-Marx-Straße“? „Auf alliierte Anordnung und auf Anregung des Magistrats von Groß-Berlin wurden 1945 Straßen mit nationalsozialistischen oder wilhelminischen Namensanteilen umbenannt. Dazu gehörte unter anderem der Hohenzollernplatz. Als neuer Name wurde dann  Karl-Marx-Platz festgesetzt“, erklärt Archivarin Julia Dilger vom Museum Neukölln. Da ein räumlicher Zusammenhang zwischen Platz und Straße besteht, wurde am 9. April 1946  der Vorschlag „Karl-Marx-Straße“ vom Magistrat angenommen, so Dilgert. Die Umbenennung erfolgte am 31. Juli 1947. Mit dem Namen soll auch an Karl Marx (1818-1883) erinnert werden, der 1946 noch als „verdienter Politiker“ bezeichnet wurde. Hinzu kommt ein Rückhalt in der Bevölkerung. Denn in Neukölln lebt eine traditionell starke Arbeiterklasse, bei der die Namensänderung sehr wohlwollend aufgenommen wurde.

Heute ist auf der Karl-Marx-Straße die einstige Vielfalt des Einzelhandels verschwunden. Handyläden, Apotheken und Frisöre sind in knallbunt langweiliger Gleichförmigkeit in den altehrwürdigen Geschäftsräumen zu finden, wovon aber auch viele während der Bomabardements der Allierten zerstört wurden, um danach kostengünstigen „Bauverbrechen“ Platz zu machen. 2006 wurde ein Straßenumbau beschlossen, der seit 2010 im vollen Gange ist. Den architektonischen Glanz des Boulevards werden auch diese Maßnahmen nicht wiederherstellen können. Wenigstens die Sitten sind rau geblieben auf der Karl-Marx-Straße.

Ein Blick in folgende Bildergalerie gibt Aufschluss über den Wandel der Karl-Marx-Straße und seiner Bewohner über die letzten 120 Jahre.


Archivmaterial © Museum Neukölln

In Zusammenarbeit mit dem Geschichtsspeicher des


 

 

 

 

Dieser Artikel ist erstmals am 5. Oktober 2011 auf neukoellner.net erschienen.

Kommentare:

  • Doris Prabhu sagt:

    Hallo, ich bräuchte Hilfe zur Feststellung einer alten Adresse. Die Bergstrasse 46 . Heute heisst die bergstrasse Karl-Marx-Strasse und ich würde gerne wissen, wo genau jetzt das Haus ist, was mal die bergstrasse 46 war. Es geht um einen Stolperstein , der verlegt werden soll. Da es noch eine Nachfahrin in NY gibt, hochbetagt, ist die Auffindung der korrekten Adresse eilig. Habt Ihr in der Redaktion jemanden, der sich gut in dieser Strassenumbennung etc. auskennt? Das wäre uns, der NY Familie und mir hilfreich, wenn der Stein verlegt werden könnte, bevor die alte Dame stirbt. Der Stein soll für Dr. Hans Adolf Bujakowsky sein. Die alte dame ist seine Tochter. DANKE

  • Doris Prabhu sagt:

    Ich habe zwar keine Antwort von Ihnen erhalten, aber dank des Rathauses / Bauamt die Adresse bekommen. Die Bergstrasse 46 ist heute die K-M.-Str. 190

  • Anonymous sagt:

    Ich bin 1970 als Student nach Berlin gekommen. Damals regierte hier die CDU mit dem Innensenator Lummer, der und seine Parteigenossen wollten keine Ausländer in Zehlendorf und Steglitz haben. Die sollten die vergammelten Altbauwohnungen mit Podesttoilette und Ofenheizung und ohne Bad beziehen.
    So zogen hauptsächlich Türken etc.und Studenten in die billigen Wohnungen.
    Nun beschweren sich die bürgerlichen Parteien besonders CDU über die „Gettos“ in Neukölln und Kreuzberg. Sie haben die Situation verursacht und nicht für Integration gesorgt. Der ADF Fatzke sollte nach Neukölln ziehen statt aus dem schicken stinkbürgerlichen Zehlendorf, Wannsee, Steglitz etc. über Multikluti zu meckern, die Bewohner der CDU Bezirke sind meist noch nie in Neukölln gewesen. Können nur mit Parolen auf Stimmungsfang gehen. Ausländer, Flüchtlinge nur nicht in meinem Bezirk.

  • Prof. Dr. Thomas Schlueter sagt:

    Mein Grossvater Walter Fanselow hatte 1946 die „Buchhandlung am Rathaus“ Neukoelln eroeffnet. Gibt es da weitere Informationen. Ich habe sogar ein Foto, wie er mit seiner Tochter (meiner Mutter) davor steht.Mein Grossvater war spaeter Redakteur der Berliner Zeitung „Der Nordberliner“, aber die Buchhandlung kann wohl nicht sehr lange gehalten haben.

    Beste Gruesse, Thomas Schlueter