Mehr Kinder, mehr Kanonenfutter

Hebammen bei der Kinderbetreuung am Mariendorfer Weg (Foto: Museum Neukölln)

Hebammen bei der Kinderbetreuung am Mariendorfer Weg (Foto: Museum Neukölln)

Früher Leuchtturm moderner Medizin, heute verrotteter Baugrund der katholischen Kirche – eine Zeitreise zur ehemaligen Hebammen- und Frauenklinik im Mariendorfer Weg. (mehr …)

Mittwoch, 21. Januar 2015

Junkie-Spritzen, Graffiti und von Kupferdieben entkernte Gebäude – die alte Hebammen- und Frauenklinik Neukölln wartet seit der Schließung 2005 nur noch auf den Todesstoß durch Neubebauung. Dabei stand die „Brandenburgische Hebammen-Lehranstalt und Frauenklinik“ bei ihrer Eröffnung 1917 für Aufbruch in der Medizin. Die Mission damals: Schwangere Frauen nach modernen Hygienestandards zu versorgen und in großem Umfang Hebammen auszubilden. Beides hatte das Kaiserreich dringend nötig.

Nur in Russland sterben mehr Babys

Zwischen 1900 und 1918 sterben 15 Prozent eines Geburtenjahrgangs in Deutschland – nur Russland hat eine schlechtere Quote unter den aufstrebenden Industrienationen. In der Industrialisierung liegt auch das Problem, sie führt zum massenhaften Zuzug in die Metropolen. Aus Käffern wie Rixdorf bei Berlin, dem späteren Neukölln, entstehen große Slums. Dort ballen sich die Menschenmassen der Arbeiter bei schlechter Hygiene und Mangelernährung.

Der Arme-Leute-Babybrei im Kaiserreich ist abgekochtes Mehl mit Kaffee. Hilfe für Mütter und Kinder gibt es, wenn überhaupt, nur auf kommunaler Ebene durch Vereine. Die sind meist abhängig vom Engagement der High Society. Kaiserin Auguste Viktoria ruft 1904 die „Vaterländischen Frauen-Vereine vom Roten Kreuz“ ins Leben. Für reiche Damen wird es chic, Milchküchen für Proletarier-Frauen zu sponsern. Über die Oberschicht sickert die Idee einer besseren Medizin für Frauen und Kinder langsam in die Politik.

Der Krankenhaus-Deal

Im Frühjahr 1913 beschließt der Landtag von Brandenburg den großangelegten Bau einer Hebammen- und Frauenklinik in Neukölln. Das gehörte damals noch zur preußischen Provinz Brandenburg und nicht zu Berlin. Der Deal kommt als Win-Win-Geschäft zwischen der Provinz und Neukölln zustande. Dessen Stadtobere offerieren satte 35.000 Quadratmeter am Mariendorfer Weg für null Reichsmark. Eigentlich ist das Grundstück 486.000 Mark wert. Dafür sichert die Provinz die Aufnahme der aus allen Nähten platzenden Arbeiterstadt lebenden Schwangeren zu.

Die Angst vor dem Aussterben

Der Landtag, in dem reaktionäre Junker das Sagen haben, gibt das Geld zum Klinikbau weniger aus Mitgefühl für leidende Mütter – es dominieren sozialdarwinistische Motive. Dass der Staat beginnt, mit modernen Kliniken nebst der Ausbildung von Fachpersonal einen Gesundheitssektor zu schaffen, soll die „Volkskraft“ stärken. In den Eliten des Kaiserreichs grassiert die Angst vor dem Aussterben des deutschen Volkes.

Eine weitere Folge der Industrialisierung: Kinder sind in der Angestelltengesellschaft nicht mehr Alterssicherung, wie noch auf dem Dorf, sondern zunehmend Kostenfaktor. Seit den 1870er Jahren sinkt die Geburtenrate im Kaiserreich. Das Bedrohungsszenario: Eine sinkende Geburtenrate bedeutet eine schwindende Zahl an Kanonenfutter und damit die sichere Niederlage im nächsten Krieg.

Jüdischer Paradebürger wird erster Klinikchef

Trotz so viel „Nationalbiologie“ im Hintergrund der Klinik wird deren Chef ein deutscher Jude. Prof. Dr. Siegfried Hammerschlag zählt zur ersten Liga von Deutschlands Frauenärzten. Als er sich um die Stelle als Klinik-Direktor bewirbt, kann der anerkannte Fachmann auf eine starke Lobby honoriger Kollegen setzen und erhält den Posten ohne Probleme.

Im Jahr der Reichsgründung 1871 in Magdeburg geboren, zeichnet Hammerschlags Lebenslauf einen Paradebürger des Kaiserreichs. Aus einer Kaufmannsfamilie stammend, studiert Hammerschlag Medizin. Weiter geht es mit Wehrdienst und renommierten Arbeitsstellen als Frauenarzt. Dann der Weltkrieg. Bis die Klinik 1917 in Betrieb geht, leitet Hammerschlag ein Feldlazarett an der Westfront, wofür er das Eiserne Kreuz II. Klasse erhält.

Die Flucht vor den Nazis nach Persien

Nach seiner Rückkehr macht sich Hammerschlag daran, einen für die damalige Zeit neuartigen Krankenhausbetrieb in Neukölln aufzubauen. Ein Novum ist die groß angelegte Ausbildung von Hebammen nach einheitlichen Standards. Da moderne Geburtskliniken zu der Zeit noch Mangelware sind, finden 80 bis 90 Prozent der Geburten zuhause statt. Mit dem Ziel, die Säuglingssterblichkeit zu senken, setzt der Staat auf eine Professionalisierung des Berufs und investiert in die Hebammen-Ausbildung. In den ersten zehn Jahren, bis 1927, werden 500 Hebammen in Neukölln ausgebildet. In der Weimarer Republik erhält Hammerschlag den Auftrag zur Neufassung des „amtlichen preußischen Hebammenlehrbuchs“.

Dann kommen die Nazis und damit das Ende von Hammerschlags bürgerlicher Existenz. Der „Frühpensionär“ lässt sich aber nicht wie ein Lamm zur Schlachtbank führen. Er nimmt ein Angebot des Schahs von Persien an und geht 1934 in den Nordosten des heutigen Irans nach Maschhad – heute nach Teheran die größte Metropole der Mullah-Republik. Deren oberster Ajatollah, Ali Chamenei, stammt von dort. In Maschhad tut Hammerschlag dasselbe wie in Neukölln und baut eine Klinik auf, diesmal mit dem Schwerpunkt, Frauenärzte auszubilden. Deutschland wird er nie wieder sehen, Hammerschlag stirbt 1948 im Iran.

Die katholische Kirche will bauen

Die Klinik im Mariendorfer Weg wird zur festen Institution in Neukölln und immer weiter ausgebaut, zuletzt in den 1970er Jahren. Tausende Neuköllner erblicken in ihren Geburtssaälen das Licht der Welt. Das Ende kommt in der „Arm aber Sexy“-Ära Berlins zu Beginn der 2000er Jahre. Damals beginnt die notorisch klamme Hauptstadt im großen Stil, die öffentliche Daseinsfürsorge abzubauen. Wundermittel der Wahl dieser Zeit: Privatisieren, wo es geht. Im Jahr 2001 gründet die Stadt ihren eigenen Krankenhauskonzern Vivantes. 2005 rationalisiert dieser die Neuköllner Klinik weg.

Seitdem ging das Areal durch die Hände von zwei Wohnungsbaugesellschaften. Zuletzt kauften sich die Petrus-Werke der katholischen Kirche die verfallenden Gemäuer. Wie die Zukunft aussieht? Seit 2008 gibt es einen Bebauungsplan. Von diesem sind diese vagen Angaben bekannt: circa 900 bis 1.000 Wohnungen sollen entstehen, für rund 60 Millionen Euro. Laut Thomas Blesing, Neuköllner Baustadtrat, wollen die Petrus-Werke 2015 loslegen.

 

Wie es heute aussieht:Wohnen auf der Babystation“ (mit Bildergalerie unten im Text)

Archivmaterial ©Museum Neukölln – In Zusammenarbeit mit dem Geschichtsspeicher des

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