Tanzen bis das Harmonium verstummt

IMG_7149Der Neuköllner Opernball erinnert den Kiez an eine vergangene Zeit, als das Amüsement noch eine wichtige Rolle spielte und Berlin noch viele Tanzsäle hatte. Wo heute die Neuköllner Oper ist, befand sich einst der Tanzsalon „Tarantel“. Einmal im Jahr begibt man sich hier auf eine Zeitreise zurück den Wurzeln.

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Samstag, 7. März 2015

Text: Marie-Christine Kesting, Fotos: Marcel Knüdeler

Die Luft wirbelt auf und verfängt sich in den Stoffen, der Wein wird warm und Blicke beginnen sich wiederholt zu kreuzen. Zu Schostakowitschs zweitem Walzer wirbeln die Tanzpaare umher. Fließenden Schrittes dreht ein Paar seine Kreise, ein anderes ordnet vorsichtig in der Mitte seine Füße. Dazwischen umsichtige Herren, die ständig bemüht sind, den Ellenbogen und Fußtritten auszuweichen und ihre Tanzpartnerin sicher durch den Strudel zu führen. Andere lassen sich mit halbgeschlossenen Augen treiben. In dem Wirbel verwischen die Farben, als wäre man inmitten des Gemäldes „Le Bal Bullier“ von Sonia Delaunay gelandet, die 1913 in geometrischen Formationen die Stimmung eines Tanzsaals einzufangen versuchte.

Tanzmusiker der Dreißiger Jahre

Es spielt das Tanzsalonorchester „NonPlusUltra“ in einer sogenannten Pariser Besetzung, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts typisch war. Es erklingt Musik der 30er Jahre, aber auch mal ein Rumba à la James Bond oder unbekannte Walzerarrangements von Paul Lincke – der Berlins inoffizielle Hymne „Berliner Luft“ schrieb – so dass man meint, nicht nur neun Musiker, sondern ein großes Orchester vor sich zu hören. Ein Großteil der Stücke wurde von Winfried Radeke wiederentdeckt und salonorchestertauglich umgeschrieben. Er sitzt still und unscheinbar an seinem Harmonium und hält von dort den Laden zusammen, wie er sagt. Er ist der wichtigste Gastgeber des Abends, denn er ist Gründer der Oper und des Salonorchesters zugleich, das er seit 15 Jahren leitet. Im Orchester lebt er seine Passion für die Tanzmusik der 30er Jahre aus, die für ihn hohe Qualität hat. Musik bedeutet ihm alles, irgendwie strahlt das seine feierliche Haltung aus.

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Das Orchester gießt Klangwellen über die Tanzfläche, die die Körper gleich zu reflektieren scheinen. Ein altes Pärchen, die 70 schon überschritten, hält es kaum auf den Bänken. Zum nächsten Swing tanzen sie frei voreinander, heben ihre Arme und tippeln ausgelassen vor und zurück. Die Augen des Mannes leuchten über seinen Brillenrand und sein ganzer Körper strahlt pures Glück aus. Überall sind ausgelassene Gesichter zu beobachten. Tanzen beglückt, das ist unübersehbar!

Die Karten sind stets schnell ausverkauft

Dabei begann der Abend unscheinbar. Peu à peu fanden sich die Gäste auf dem Neuköllner Opernball ein. In der Neuköllner Passage wies nichts darauf hin, dass drei Etagen höher ein schummrig beleuchteter Tanzsaal auf seine Gäste wartete. Dabei findet das begehrte Event seit 1990 – ausgenommen einer längeren Unterbrechung – jährlich statt und ist nach ein paar Tagen nach Bekanntgabe des Datums ausverkauft. Wie zu einem geheimen Treffen fanden sich die Ankömmlinge zusammen und schlichen die Treppen hinauf. Ein Tanzkurs sollte zunächst die steifen Glieder und eingerosteten Erinnerungen wieder ölen und die Tanzunerfahrenen ermutigen. Erst mit dem Gasag-Walzer, der dem Hauptsponsor einen prominenten Platz gewährt, hob dann das Orchester zur live-Musik an. Nach der Begrüßung des Vereinsvorsitzenden Eckhardt Barthel, der erst mal ein anerkennendes Tischklopfen erntete, als er seine Rede ansetzte, stellte sich erst das unweigerliche Gefühl ein, auf ein Stammpublikum gestoßen zu sein, das größtenteils dem Förderverein der Oper angehörte, oder zumindest für den Beitritt gewonnen werden sollte.

Was als kleines Fest für die Angestellten der Oper begonnen hatte, schien durch den schnellen Ausverkauf nunmehr 130 bemittelte Berliner ausgesiebt zu haben, statt die Neuköllner Nachbarschaft einzubeziehen, was das Programm der Oper im Allgemeinen versucht. Doch die Musik ließ die anfängliche Steifheit schnell verfliegen. Auch die Biertischgarnituren, die erschwinglichen Preise und die durchlässige Kleideretikette vermittelten eine Bodenständigkeit, die sehr einladend wirkte, allerdings beim großen Wiener Bruder schon auf Echauffiertheit gestoßen war. Tatsächlich deckt der Neuköllner Opernball geradeso seine Kosten und spielt keine Gewinne ein. Für 40 Euro gibt es Tanzvergnügen, Musik, ein Suppenbuffet und ein Los für die Tombola.

Ausziehen! Aufsetzen!

Zur Tombola, dem Höhepunkt des Abends, trat endlich Winfried Radeke ans Mikrofon. Die Gäste begannen nervös auf den Bierbänken hin- und her zu rutschen, denn es gab Schätze und Nutzlosigkeiten aus dem Opernfundus zu erstehen, wie Unterröcke, Häubchen oder ein Hirschgeweih. Mit regem Spaß kommentierte der kleine Mann, mit den freundlichen Augen die Requisiten und ließ eine männliche Glücksfee aus dem Publikum die nummerierten Kugeln aus einer Schüssel ziehen. Wenn ein glücklicher Gewinner gefunden war, forderte das Publikum gleich seinen Anteil am Triumpf ein: „Anziehen!“ Oder: „Aufsetzen!“ wurde unter großem Gelächter gerufen und mit lauten Ooohs und Aaahs belohnt.

Später, zum letzten Musikstück des Balls, zu Offenbachs Can Can aus „Orpheus in der Unterwelt“, war die Stimmung dann so ausgelassen, dass ein Unterkleid auf die Tanzfläche zurückfand und seine Gewinnerin, es hin und her wedelnd, ihre fliegenden Beine unter ihm zeigte. In dem gedämpften Licht, der unverstärkten Musik und der ausgelassene Stimmung schien sich plötzlich Geschichte und Jetztzeit zu vermischen, als stelle sich eine seelische Verbindung zum Ursprung des Saales her. Welch ein Glück, so einen lebendigen Erinnerungsort in Neukölln zu haben.

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