Besser hier als auf der Straße

Der Boxsport als Lebenshilfe für auffällig gewordene Jugendliche. Macht das Sinn? Ein Besuch beim „Kick-Projekt“ der Neuköllner Sportfreunde.

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Sonntag, 12. Juni 2011

Thomas Jansen steht auf einer Eisentreppe in der Neuköllner Oderstraße. Unter ihm joggen ein paar Jungs über den kalten Asphalt, einige machen Liegestütze.  „Schneller, ihr schlaft ja gleich ein“, gibt Jansen lautstark Anweisung. Man begrüßt sich mit festem Händedruck. Was für Jugendliche kommen zum Boxen, auch die Schläger? „Klar, die auch. Der hier…“, sagt Jansen, und deutet auf einen Jungen in weißem Trainingsanzug, „ der ist ein ganz Schwieriger.“

Thomas „Teddy“ Jansen, der Jugend-Boxtrainer der Neuköllner Sportfreunde mit dem vernarbten Gesicht und der rauen Stimme war eines der größten Talente seines Jahrgangs, kämpfte sogar gegen einen der bekannten Rocchigiani-Brüder. Doch mit 31 Jahren war Schluss, er geriet auf die schiefe Bahn: kein Geld, die falschen Freunde, die alte Geschichte: „Nur hatte ich damals niemanden, der mir geholfen hätte.“

„Respekt, Interesse, Disziplin“

Heute will Jansen helfen. Der 49-Jährige ist in Neukölln aufgewachsen. Er kennt den Kiez und die Probleme. Wenn die Jugendlichen über seine Türschwelle treten, dann ist Boxen angesagt. Was das bedeutet für die 10 bis 17-Jährigen? „Respekt, Interesse, Disziplin. Das verlangen wir“, presst Jansen die Schlagwörter heraus. Und der Coach weiss aus Erfahrung, wie er mit seinen Jungs umzugehen hat. „Probleme zu bewerten, wie ein Oberlehrer, bringt hier gar nichts. Es hilft nur Zuhören, über eigene Erfahrungen sprechen, dann erreicht man sie.“

Seit 2009 existiert das Box-Integrationsprojekt der Neuköllner Sportfreunde, das auch von Spenden einer gemeinnützigen Organisation getragen wird. „Eigentlich komme ich vom Handwerk, habe Maler und Lackierer gelernt“, lacht Jansen. Jetzt ist er Sozialarbeiter und Boxlehrer in Personalunion. Seit zehn Jahren arbeitet er für das „Kick“-Gemeinschaftsprojekt von Polizei, Senat und Berliner Vereinen, das den Sport als verbindendes Medium in der Kriminalprävention einsetzt.

Es klingt zunächst absurd: Boxen als integratives Instrument für junge Gewalttäter. Doch in der Trainingspraxis werden die delinquenzgefährdeten Jugendlichen sozialpädagogisch eng begleitet. Die Vermittlung von Regeln, die Bedeutung von Fairness und das „Auspowern“ stehen im Vordergrund – nicht die körperliche Auseinandersetzung. „Durch ein derartiges Training sowie eine Einbindung in positive Gruppenstrukturen, kann das Selbstwertgefühl von Jugendlichen gestärkt werden. Ein Abgleiten in Perspektivlosigkeit und Straffälligkeit ist dann weniger wahrscheinlich“, sagt Eckhardt Lazai, der polizeiliche Koordinator des „Kick“-Projekts.

Paul und Harry sind für das „Auspowern“ zuständig. Die zwei Helfer in Jansens Trainerstab machen schweisstreibende Fitnessübungen mit den 12-14-Jährigen, gerade sind Sit-ups an der Reihe. Auch aufgrund des harten Trainings stellten sich für den Verein zuletzt sportliche Erfolge ein. Ein schöner Nebeneffekt des integrativen Projekts. Da ist Fayez, ein schmaler Junge im roten T-Shirt, seit ein paar Wochen Berliner Meister in seiner Altersklasse. Die Landestrainer sind aufmerksam geworden, sie würden Fayez am liebsten ins Sportinternat Hohenschönhausen stecken. Aber Coach Jansen will ihn noch nicht gehen lassen: „Er soll dem Kiez verbunden bleiben, wir brauchen ihn als Vorbild für die anderen.“

Schießerei in der Nachbarschaft

Während der Trainer spricht, geht dessen Blick immer wieder auf die Gruppe. Sein Kopf schnellt herum, wenn er merkt, dass einer nicht richtig arbeitet. Denn nur allzu oft trügt der harmonische Schein. Das gilt in der Boxhalle ebenso wie für den gesamten Bezirk Neukölln. Hohe Arbeitslosigkeit, viele Konflikte, gerade unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Auf der Straße haben zumeist libanesische oder türkische Clans das Sagen. Deren Söhne kommen zu Jansen, zum Teil von verfeindeten Familien. Geht es um solche Fehden stößt auch das integrative Boxprojekt an seine Grenzen.

Vergangenen November gab es eine Schießerei in der Emser Straße, nur ein paar hundert Meter von der Sporthalle entfernt. „Opfer und Täter hatten hier trainiert. Die bleiben jetzt natürlich fern“, erzählt Jansen. Doch Naivität im Umgang mit solchen Dingen wollen sich die Trainer nicht nachsagen lassen: „Wir verschließen nie die Augen vor sowas. Rausgeschmissen wird aber niemand.“ Denn wer integrieren will, wer Sozialarbeit im Bezirk Neukölln betreiben will, der muss konsequent sein, der darf sich von Rückschlägen nicht aus der Bahn werfen lassen.

Nach einer Weile hat Thomas Jansen keine Zeit mehr zum Reden. Es geht ans Sparring mit den beiden 15-Jährigen Mohamed und Nassim. Selbstbewusst zeigen die Jugendlichen ihre Beinarbeit, es wird getänzelt. Zwei Boxtalente, beide schon einmal von der Schule geflogen, gehen diszipliniert über vier Runden. Erkennt Jansen technische Fehler, unterbricht er. Nassim hatte seinen Gegner bereits in die Ecke gedrängt, wich daraufhin zurück. Der 49-Jährige erklärt, Nassim müsse Nachsetzen und klingt dabei mehr wie ein Freund, denn wie ein vor Autorität strotzender Trainer.

Nach dem Kräfte zehrenden Sparring müssen Nassim und Mohamed auf die Waage: „Ich wog über 80 Kilo als ich zum ersten Mal herkam, heute hab ich 64“, sagt Nassim stolz und zeigt auf seine kleinen Bauchmuskeln. Weil sie hier ernst genommen werden, kommen die Jugendlichen gerne in den Boxklub. Mohamed arbeitet sogar als Betreuer und erledigt kleinere Aufgaben. „Für mich ist das Boxen hier etwas Besonderes“, sagt der 15-Jährige. „Es macht mir Spaß mit den Trainern zu arbeiten, denn sie fordern mich. Und besser hier im Klub zu sein, als auf der Straße.“

Dann ist das Training zu Ende und Thomas Jansen macht sich auf den Heimweg. Richtung Schlachtensee. Dorthin, in die Westberliner Idylle, ist er vor ein paar Jahren mit seiner Frau und seiner Tochter gezogen. „Ihnen möchte ich das ersparen, was ich hier im Viertel durchgemacht habe“, sagt der boxende Sozialarbeiter, und wirkt dabei fast ein klein wenig erschöpft. Kein Wunder. Für diesen Job braucht man einen langen Atem und eiserne Standfestigkeit. Wie im Boxring.

 

Ein Radio-Feature über das Boxprojekt der Neuköllner Sportfreunde erstellt von unserer Kollegin Regina Lechner gibt es hier.