Neuköllnische Weihnachten

Auf der belebten Karl-Marx-Straße könnte man fast vergessen, dass Heiligabend ist. Aber man muss nur ein paar Meter ins alte Böhmische Dorf hineingehen, um vom weihnachtlichen Glanz einer kleinen Gasse sofort wieder daran erinnert zu werden. (mehr …)

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Montag, 26. Dezember 2011

Von Sabine Künzel

„Es begab sich aber zu der Zeit…“ beginnt die Weihnachtsgeschichte, die an diesem Nachmittag auch im großen Saal eines weißen, langgestreckten Gebäudes in Rixdorf vorgelesen wird.  Hier feiert die Herrnhuter Brüdergemeine ihren Gottesdienst, eine evangelische Kirche mit Wurzeln in Böhmen. Sie sind Namensgeber sowohl für den Herrnhuter Weg als auch für das „Böhmische Dorf“, die Gegend rund um den Richardplatz. Genauso fühlt man sich, wenn man vor dem Eingangstor der Kirche steht – wie im Dorf. Seit meiner Geburt habe ich hier fast jeden Heiligabend verbracht, wo der Großstadtrummel kilometerweit entfernt zu sein scheint

Die schmale Kirchgasse zwischen Donau- und Richardstraße ist nur spärlich beleuchtet. Einige wenige Straßenlaternen werfen Schatten an die Wände, gelbe Weihnachtssterne, Herrnhuter Sterne genannt, hängen mittig im Abstand von wenigen Metern über unseren Köpfen und tauchen das Kopfsteinpflaster in ein angenehm schummriges Licht.

Doch es dauert nicht lange und die Gasse erwacht zum Leben. Nach und nach strömen Menschen auf die Kirche zu. Vor dem Eingang hat sich der Bläserchor in einem Halbkreis versammelt und spielt Weihnachtslieder. Im Inneren des Saals sorgen zwei imposante Kronleuchter für strahlendes Licht. Um Punkt 17 Uhr haben sich die Musiker auf der Empore versammelt und geleiten dem Pfarrer musikalisch den Weg nach vorne zum Altar.

Die Herrnhuter Brüdergemeine hat in Deutschland ca. 6000 Mitglieder, weltweit sind es 825 000. Sie ist eine überkonfessionelle liberale Kirche. Einer ihrer bekanntesten Bischöfe war Johan Amos Comenius, nach dem der Comenius-Garten benannt ist. Sie ist besonders für ihre Missionsarbeit bekannt, mit der sie nicht nur den christlichen Glauben in der Welt verbreitet sondern sich auch für die Verbesserung der Lebensumstände der Einheimischen einsetzt. Auch die Herrnhuter Sterne und die von der Kirche herausgegebene Losung, ein Andachtsbuch mit Versen für jeden Tag, sind weltweit bekannt. Nicht nur an Weihnachten kommen viele Menschen nach Rixdorf in den weißen, traditionell karg gehaltenen Saal.

In der Ansprache des Pfarrers geht es um die Hirten, denen in der dunklen Nacht die leuchtenden Engel erscheinen. Um Menschen, die einst im Dunkeln tappten und doch Licht am Ende des Tunnels erblickten. Um Blinde, die wieder sehen können.

Einer im Raum scheint die Symbolik von hell und dunkel sehr ernst zu nehmen: Der Mann am Lichtschalter. Er unterstützt die Metaphern des Pfarrers tatkräftig, ständig geht ein Licht aus, ein anderes an, dann wieder alles aus und wieder alles an. Dies zieht sich durch den gesamten Gottesdienst. Schnell hat sich die Aufmerksamkeit vom Pfarrer weg- und der Beleuchtung zugewandt. Der Mann am Lichtschalter ist ungewollt zum Stimmungsmacher des Gottesdienstes avanciert. Dem Neuköllner Kirchpublikum geht der Diskoeffekt sichtlich auf die Nerven.

Die Rettung naht  im Zuge einer alten Tradition: Zwei Frauen in Trachten und mit weißen Hauben auf dem zusammengebundenen Haar beenden die Lichtspiele. Durch die Türen rechts und links des Altars treten sie in den Saal, jede ein Tablett mit angezündeten Kerzen in den Händen. Die Kerzen  werden der Reihe nach verteilt und das Licht wird ein letztes Mal ausgeschaltet. Das ungeduldige Murren verwandelt sich in ein wohlwollendes Murmeln. aus.

Nach dem Gottesdienst beobachte ich noch einen Moment die Lichter in der Gasse, die Herrnhuter Sterne, den Kerzenschein und die schummerigen Straßenlampen, die sich zu einem Lichtermeer vermischen. Wer der Mann am Schalter war habe ich leider nicht herausgefunden. Dafür aber, dass ein Weihnachten, an dem ich nicht in Neukölln in der Kirchgasse bin, für mich nicht vollständig nicht. Obwohl ich nicht religiös bin, hatte ich auch in diesem Jahr in der Kirche meine helle Freude. Im wahrsten Sinne des Wortes.