Der Blick vom Balkon

Das Gebäude im Laufe der Zeit (Archiv: Lieselotte Ochmann)

SCHI-24: Es kann kein Zufall sein, dass solch eine Geschichte an ihrer Wohnungstür klingelt. Mitten in ihren historischen Recherchearbeiten. (mehr …)

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Samstag, 16. Juni 2012

Text: Michael Zambrano

Es klingelt an der Tür. Eine unbekannte Frau steht Zara gegenüber und fragt nach ihrer Nachbarin. Diese habe seit einiger Zeit nicht mehr auf gewisse Briefe reagiert. Aus diesem Grund wolle sie sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen.

Das Haus, in dem sie stehen, war noch nicht all zu lange errichtet, als Maria vor 85 Jahren mit ihren Eltern in die Wohnung nebenan einzog. Eine Eckwohnung im vierten Obergeschoss des Vorderhauses. Ein Balkon, von dem aus rechts die Okerstraße, links die Hermannstraße und gegenüber der Friedhof zu sehen ist. Maria müsste damals drei Jahre alt gewesen sein. Und das Haus, sowie das gesamte Wohnviertel, dürften in etwa das Alter ihrer Eltern gehabt haben. Alles war noch neu. Maria klein. Die Bäume auf dem Friedhof gegenüber auch. Und der Blick von ihrem Balkon, unendlich.

Dieser phantastische Blick: über den Friedhof hinweg, in den südlichen Horizont hinein. Ein so kleines Mädchen, aus so einer Höhe, mit so einem weiten Blick. Egal, wieviele Jahre vorübergehen würden, sie würde sich immer daran erinnern können.

Maria lebte in diesem Haus bis 1931 und konnte viele Erinnerungen ihrer Kindheit mit diesem Ort verbinden. Zum Beispiel ihr erstes Taschengeld, welches sie verdiente, indem sie die Blumen auf den Gräbern im Friedhof gegenüber goss, oder das Wäschewaschen auf dem Dachboden. Etwas, das für Kinder, die heutzutage dieses Haus bewohnen, unverständlich wäre.

Als sie acht Jahre alt war, zog Maria mit ihrer Familie weg und kehrte erst fünfzehn Jahre später mit Anfang zwanzig in diese Gegend zurück. Sie kam zu Besuch nach Neukölln und sah, dass ihr damaliges Haus den Krieg überlebt hatte. Als ob kein Tag vergangen wäre, kehrten auch die Erinnerungen zurück und sie beschloss einen Brief an die jetzige Bewohnerin ihrer Kindheitswohnung zu schreiben. Ohne zu zögern bat Maria sie darum, ihr ein Foto von dem Blick des Balkons zu schicken. Was die neue Bewohnerin auch gerne tat. Und somit begann eine Brieffreundschaft, die noch heute, nach über 65 Jahren, lebendig ist.

Liselottes Teil der Geschichte

Liselotte war im Jahr 1933 mit ihren Eltern in die Eckwohnung im vierten Obergeschoss des Vorderhauses gezogen. Sie müsste damals elf Jahre alt gewesen sein. Dementsprechend hatte sie ähnliche Kindheitserfahrungen wie Maria machen können und verspürte eine genauso tiefe Verbindung zu diesem Ort. Maria zog später nach London und die Geschichte des Hauses setzte sich in Begleitung von Liselotte fort. Mit dieser Wohnung als ihrem Zuhause vergingen 77 Jahre, die wiederum hunderte von Erfahrungen und Erinnerungen zurückgelassen haben.

Aber nicht alles war nur schön und freudig in diesen fast acht Jahrzehnten. Kurze Zeit nach ihrer Hochzeit erkrankte Liselotte im Alter von 27 Jahren an Krebs. Als Konsequenz dieser Krankheit musste ihr Bein amputiert werden. Da sie ab diesem Zeitpunkt nicht mehr ohne Hilfe aus ihrer Wohnung konnte, kümmerte sich ihr Ehemann um sie und trug sie jedes Mal nach unten, um auf die Straße zu gehen und wieder nach oben – dies über mehrere Jahrzehnte.

Das Gebäude im Laufe der Zeit (Archiv: Lieselotte Ochmann)

Auch das Haus, in dem sie wohnten, erlebte im Laufe der Zeit einige Veränderungen. Die Jahre gingen nicht spurlos an diesem einst so eleganten und prächtigen Gebäude vorüber. Anfang der siebziger Jahre wurde die Außenwand des Hauses komplett saniert. Liselotte dokumentierte diese Verbesserungsmaßnahme. Die Renovierung, wie im Bild zu sehen, verwandelte eine ursprünglich gelbe, mit Stuck verzierte Fassade in eine glatte, braun-graue Oberfläche.

Über die ganzen Jahre reisten Briefe aus London nach Berlin und wieder zurück. Und sogar Liselotte selbst war einmal bei Maria zu Besuch. Eine Brieffreundschaft, die im Jugendalter begann und beide über alle weiteren Lebensphasen begleitete. Bis plötzlich, Ende 2010, der Briefverkehr stoppte.

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Das Eckgebäude

Ein Audioguide zur Geschichte des Hauses und des Kiezes

Zara Morris, Künstlerin und Bewohnerin des Eckgebäudes (Okerstr./Hermannstr.), befasste sich über einen langen Zeitraum intensiv mit der Geschichte ihres Hauses und seiner Bewohnerinnen und Bewohner. Die recht frei nacherzählte Geschichte, deren Ende Sie selbst herausfinden müssen, ist nur ein Bruchteil der von ihr entdeckten historischen und biographischen Schätze.

Am Wochenende der „48 Stunden Neukölln“, 16. und 17. Juni 2012, sind Sie eingeladen, sich mit einem Audioguide zu einer Zeitreise durch das Eckgebäude führen zu lassen. Interviews und Beschreibungen werden in unterschiedlichen Stationen, innerhalb und außerhalb des Gebäudes, über dessen Geschichte und die des Kiezes erzählen. Sie werden nicht nur auf historiographische Informationen stoßen, sondern ebenfalls auf Erzählungen und Meinungen aus erster Hand.

Dieser Audioguide von maximal einer Stunde steht in drei Sprachen zur Verfügung (Deutsch, Türkisch und Englisch) und wird auf mitgebrachte MP3-Spieler und Smartphones geladen. Es wird darum gebeten, eigene Kopfhörer mitzubringen. Im Bedarfsfall stehen auch Leihgeräte zur Verfügung; hierfür sollten sich die Interessent/innen aber vorab unter den unten angegebenen Kontaktdaten anmelden.

Der Text ist in der Juni-/Juliausgabe der Schillerkiezzeitung „Promenadenmischung“ erschienen.

Datum: 16. und 17.06.2012, ab 12 Uhr (letzter Einlass 16 Uhr)

Ort: Eckgebäude Okerstr. 1-2 / Hermannstr. 68-70

Eingang Okerstr. 1, 12049 Berlin (4. OG), bei Morris klingeln

Weitere Infos unter: http://daseckgebaeude.blogspot.de/