Bezirks-Poesie

Kurt Tucholsky, Durs Grünbein oder Peter Fox haben ihre Gedanken zu Berlin in anrührende Zeilen verpackt. Jetzt sind 75 Berliner Bürger in ihre Fußstapfen getreten und herausgekommen ist: ein neues Stadtgedicht! Der Lyriker Tom Schulz erzählt von der Poesie Neuköllns und davon, wie die Zeilen über diesen Bezirk entstanden sind. (mehr …)

Text:

Donnerstag, 22. September 2011

Neukölln-Auszug aus dem Berlin-Gedicht:

weiter südlich ziehn (über die beringung)

ausm arsch kommen also graefe ecke hase mit der
taube, taumelnd im umzugskarton. die hatte sich
an die scheibe geworfen, schöner umriss von flugvermögen
stand flaumig am glas, hinterm grünzeug
der loggia sich versteckt dann, erschüttert von
so viel transparenz. richtung neue welt
mit dem vogel, ihn fliegen zu lassen in der heide
wo die pfauen schrein abends. nun, also, flieg

ins neu
kölln auge
schau

unterm Kopftuch
ein Gehirn
Neuronen transmittieren
Synapsen verbinden
den Geruch des Sommers
hinter Lidern
das Kopftuchkino spielt

Helene Trümmerfrau
fährt als blinde Passagierin unerkannt im 171er
durchs Neuköllner Gebläns

an die ecke, wo der dörferblick ruht und reinschaut
ins land, planlos, betrümmert, die flosse
am steigflügel angehakt. rücksicht üben also.
wind in den baumfedern, kirschen, jasmin und
vogelgesang. hinter uns felder. das schöne
spuckt ab+zu n flugzeug in die luft. vor uns aber, jenseits

flieg hoch
zum neukölln
geist

wos real,- wird, wos pappelheim einig wird, endlich
fein getrennte kleinkolonien, und n glück versuchen
an der roten front, wo karlmarx nicht mehr hinreicht
und alles sauber und geordnet scheint, oder
inn britzer garten, wo die tulpen schielen rüber
zum urnenhain, ach, am besten ganz hin

Palmen Sonntagfrüh, Stille vor den Glocken
vor dem Lärm der Stromschnelle
dem Schutz vorm Heulen, Schlittern, Geschepper
dazwischen fährt das Akkordeonspiel

Helene Trümmerfrau
lässt nächtens Shishapfeifen über der Hasenheide tanzen
gebratene Hähnchen aus maroden Kanaldeckeln entweichen
prustet bei Karstadt Apfelmus über Herrenkrawatten
kommentiert heiter den Balztanz der Windelmachos
und den Liebesreigen der Morusdamen

Blüten im Korb und im Haar aus Beton
im aufgestellten Jahr zwischen den Wäldern
kündet die Garben an, autumnus, hiems

krall dich
ans neukölln
hand

die high decks von richardsdorp, britzig
bukow, rhudow & gropiusstadt,
masterplanmäßig, wie wir verkehrn mit
einander, zielgruppig einschwemmen
in KREUZKÖLLN eintauchen

hin neu
kölln seele
sink

Ben Türk değilim! Çağır o yunanı zeytin paketliyen olarak. (1)
C-A-F-F-E-E trink nicht so viel Kaffee
Hätte Oma gesungen
in der Friedelstraße, auf dem Reuterplatz
beim Anblick milchgeschäumter Espressonisten
denn hier lässt niemand
vom Türkentrank

(1) Ich bin kein Türke! Ruft der Grieche als er die Oliven verpackt. (Zeile ins Türkische übersetzt von: Nergiz Karakus)

in den wasserstraßen hier, die mit offenen mündern
kreuz +- quer schwänzeln im erweiterten stadtbad,
namen ins gewässernetz flösseln: diese feuchtlieb-
haber. ach, tät der haraldjuhnky noch spieln!
ich würd weiter südlich ziehn, über die beringung

da geht ein Ort auf
ein Zipfel ins Viertel
das gibt sich nicht
doch das Organ japst
will vom Atem etwas
da weht ein Stück vom Tag der Stadt

Zu Paul’s Linken ist heut Markt
Für Dich: Der schönste Strauß Petersilie
Für mich ein Simit: Sesamsüß

Helene Trümmerfrau
schwört auf ewigblaue Wunder
zeitlos, unverbraucht
Sub-Prinzessin, Steinqueen
aus dem Adelsgeschlecht derer zu Neukölln

öffne
dein neukölln
herz

der Wunsch
in eine Spur zu fallen
aus dem Grund
hoch ins Straßenlicht
nur ein Organ
ohne Augen
kein Arm noch Fleisch
verblos
oben am Rand schon
fängt es an

 

Geschrieben haben: Sabine Küster, Janna Schiemann,
Arne Vogelgesang, Manuel Weber

Begleitet von: Tom Schulz

 

Matthias Kniep, Thomas Wohlfahrt (Hrsg.):
Das große Berlin-Gedicht.
be.bra Verlag, 80 S., 8,00 €.