Fotos: Tamara Rabea
neukoellner.net: Wenn du „Sonnenallee“ hörst, welche Assoziationen kommen dir spontan in den Sinn?
Tamara Rabea: Geschäftiges Treiben, kleine Läden, arabisches Essen. Eine lange Straße, die sich immer wieder verändert.
Welchen Bezug hast du persönlich zu der Straße?
Ich habe über einen Zeitraum von drei oder vier Jahren immer wieder auf der Sonnenallee bei meinem Freund gelebt. Wir hatten damals eine Fernbeziehung – ich in London und er auf der Sonnenallee. In London hatte ich immer viel zu tun; arbeiten, studieren, Abgaben. Wenn ich nach Berlin kam, hatte ich mehr Zeit, zum Fotografieren, neue Dinge entdecken und Orte erkunden. So fing ich an, die Sonnenallee zu fotografieren. Meine Kamera gibt mir die Möglichkeit, an Orte zu gehen, mit denen ich nichts zu tun habe und mit Leuten zu sprechen, die ich noch nie getroffen habe. Sie ist sozusagen eine gute Ausrede für neuen Begegnungen.
Hast du einen Lieblingsort auf der Sonnenallee?
Da gibt es viele. Einer fällt mir spontan ein, den es leider nicht mehr gibt: eine Konditorei. Ein syrischer Bäcker machte dort die besten Süßigkeiten, die ich je gegessen habe. Ich lernte ihn am Ende des Ramadans kennen; wir saßen, tranken Tee und redeten. Er erzählte mir, dass er wohl früher oder später seinen Laden aufgeben müsse, weil die Miete gestiegen war. Außerdem war er besorgt um sein Land, indem damals gerade der Bürgerkrieg ausgebrochen war. Es war eine nachdenkliche Begegnung. Als ich ging, gab er mir Gebäck mit. Ich wollte ihm unbedingt sein Portrait geben – sein Bild ist auch in meinem Buch –, aber als der Film entwickelt war, war dann sein Laden schon geschlossen. Ich habe herumgefragt und es am Ende einem Bekannten von ihm gegeben, der in der Nähe seinen Laden hatte. Ich hoffe, dass er das Portrait gekommen hat. Ich denke oft an ihn, an seine Sorgen um Syrien und an sein Gebäck.
Nach was riecht die Sonnenallee?
Dazu fällt mir kein konkreter Geruch ein… aber viele Bilder.
In deinen Fotografien beschäftigst du dich viel mit dem Thema Identität und Heimat. Was hast du, aus deiner Londoner Perspektive, diesbezüglich mittlerweile für einen Blick auf Deutschland und Neukölln?
Ich lebe seit zehn Jahren in London, das hat mich geprägt. Identität und auch Heimat haben für mich keine festgefahrene Definition. In Deutschland hatte ich manchmal das Gefühl, dass man nur das eine oder das andere sein kann, aber nicht eine Mischung oder beides. Früher gab es wenig Sensibilität für solche Ideen. Mittlerweile hat sich das in vielen Bereichen geändert, denke ich. Für mich, und bestimmt auch für viele andere, ist eine ganz konkrete lokale Identität viel wichtiger als eine nationale. Das habe ich auch oft in Neukölln gemerkt.
Viele deiner Protagonisten von der Sonnenallee lassen durchblicken, dass sie sich selbst als Deutsche sehen – nur von außen als solche oft nicht anerkannt werden, weil sie fremd klingende Namen haben. Hast Du das selbst auch erlebt? Und hattest Du ähnliche Erlebnisse in London gemacht?
London ist für mich ein Ort, der sehr tolerant und offen ist. Er hat eine lange Geschichte von Migration und der Einfluss verschiedener Kulturen ist überall sichtbar. Man hat keine Angst Fremdem zu begegnen, es ist Normalität. Vor allem in den Stadtteilen, in denen ich gelebt habe, hat eine nationale Identität so gut wie keine Bedeutung. Die Gemeinsamkeit, Londoner zu sein, ist viel stärker.
Bekommst du in England viel von der Debatte um Pegida und Islamophobie mit? Beschäftigt dich das?
Ja, ich höre viel darüber im Radio auf BBC, außerdem sprechen mich oft Freunde darauf an. Mich würde interessieren, vor was die Menschen in Dresden wirklich Angst haben. Leider erregt diese kleine Minderheit an fundamentalen Muslimen so viel Aufmerksamkeit, dass die Stimmen der Mehrheit sich manchmal sehr leise anhören. Ich habe viele Freunde, die Muslime sind, die es selbst nicht fassen können, was im Moment passiert. Ich lese aber auch von vielen positiven Zeichen, die im Moment von verschiedenen Organisationen und Gruppen gesetzt werden, wie das Ausschalten der Lichter am Kölner Dom oder ein gemeinsamer Gottesdienst der jüdischen und muslimischen Gemeinden in Oslo zum Gedenken der Opfer von Paris.
Kann man die Sonnenallee deiner Meinung nach als ein positives Beispiel für „multikulti“ sehen?
Größtenteils schon. Ich hatte den Eindruck, dass jeder seinen Platz hat in der Sonnenallee. Ich würde mir aber wünschen, dass ‚multikulti’ mehr unter die Oberfläche geht. Ich denke, dass man mit den meisten Menschen Schnittpunkte finden kann, wenn man sie sucht. Das ist ganz unabhängig von kulturellem Hintergrund oder Religion.
Gibt es in London einen Ort/eine Straße, die dich an die Sonnenallee erinnert?
Ja, einige! Vor allem aber die Kingsland Road. Es ist eine ganz lange Straße, von den Römern damals kerzengerade gebaut. Auf ihr passiert auch so einiges. In der Nähe gibt es einen Markt, der in den letzten 100 Jahren ein Treffpunkt für englische, jüdische, karibische, türkische, zyprische, pakistanische, afrikanische, afghanische (und viele andere) Händler, Kunden und Waren war. Diesen Markt habe ich auch immer wieder fotografiert, vor allem bei Sonnenaufgang.
Tamara Rabea, 31, ist in der Nähe von Karlsruhe aufgewachsen. Ihre erste Kamera bekam sie von ihrem Großvater geschenkt und ihr Vater brachte ihr bei, eine Kamera zu benutzten. Sie lebt seit über zehn Jahren in London und arbeitet dort als freie Fotografin.
Kommentare:
Ah ja – der Bäcker. Den kenn ich auch noch – der war wirklich spitze!