„Neukölln ist wahnsinnig schön bekloppt“

„Neukölln ist definitiv mein Lebensmittelpunkt“ – Die Regisseurin Yasemin Samdereli; Foto: Griet Hendrickx

Mit ihrem ersten Kinofilm „Almanya – Willkommen in Deutschland“ gewann sie beim Deutschen Filmpreis 2011 die silberne LOLA. Nun ist Yasemin Şamdereli die Schirmherrin von 48 Stunden Neukölln. Im ersten Teil unseres Interviews spricht die in Dortmund aufgewachsene Regisseurin über die Komplexität von Kunst, den Charme Neuköllns und warum das hier trotzdem kein Paradies ist.
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Donnerstag, 7. Juni 2012


Neukoellner.net: Frau Şamdereli, Sie sind dieses Jahr die Schirmherrin von 48 Stunden Neukölln. Warum machen Sie das?

Yasemin Şamdereli: Erstens, ich bin Neuköllnerin. Es ist eine Ehre, wenn man gefragt wird. Und das Festival ist ein tolles Projekt. Ich habe in den Jahren davor als normales Publikum ein paar Veranstaltungen besucht und fand, es waren sehr schöne Sachen dabei. Und die Athmosphäre ist auch toll. Es gab also gar keinen Grund, der dagegen gesprochen hätte, es zu machen.

Was erwarten Sie vom Festival?

Ich bin nicht so der Typ, der große Erwartungen hat. Ich hoffe natürlich, dass es für die Veranstalter gut läuft. Aber das kann ich nicht beurteilen, wann es für sie richtig gut läuft, ab wieviel Besucher das richtig toll ist, was sie sich erhoffen und so. Aber ich fände es sicherlich gut, wenn es einen gewissen Zuspruch findet.

Sie haben mal gesagt: Filme sollten in erster Linie Unterhaltung sein. Kann denn Kunst mehr sein als nur Unterhaltung?

Natürlich. Ich glaube, spannend wird es bei Kunst, wenn man erstmal nichts begreift. Beim Film, da sitzt man in einem dunklen Raum mit anderen Menschen und möchte im besten Fall berührt werden und eine Geschichte erleben, die es wert ist, geguckt zu werden. Kunst ist da komplexer.

Tiefgründiger?

Das würde ich nicht sagen. Es gibt sicherlich auch viel Banalität in der Kunst. Man kann sich auch hinter Unverständlichkeit verstecken. Oder besser gesagt, man kann auch kein Konzept haben. Ich glaub nicht, dass Künstler erklären müssen, was sie da tun. Vielleicht müssen sie es nicht einmal selber wissen.

Sie leben seit fast sechs Jahren in Neukölln. Warum sind Sie gerade hierher gezogen?

Aus dem gleichen Grund wie viele andere auch. Die Mieten waren einfach günstiger. Als ich nach Berlin gezogen bin, kannte ich über Neukölln nur das übliche, Rütli-Schule und so. Und habe gemerkt: Es ist doch gar nicht so schlecht hier. Und es hat sich ja komplett verändert. Als ich damals suchte, bekam man noch Einzeltermine für Wohnungen, wo man einzeln rumgeführt wurde und dann war der Mann oder die Frau sehr froh, wenn man Interesse bekundete an der Wohnung. Jetzt ist es total überrannt.

Mittlerweile hat man das Gefühl, dass es mehr ein Statement oder eine Attitüde ist, nach Neukölln zu ziehen.

Natürlich hat Neukölln ein sehr hippes Image. Ich bin mir aber nicht sicher, wieviele Leute nur danach gehen. Die Medien machen mehr daraus, als es ist. In der Realität ist es doch so: Du brauchst ’ne Wohnung. Und du fragst dich: Welcher Stadtteil gefällt mir? Es gibt sicherlich Menschen, die sagen, ich geh nicht nach Mitte oder Prenzlberg, weil mir das Publikum da auf die Nerven geht. Und für viele Künstler, die Räume brauchen, die nicht so viel kosten sollen, ist Neukölln einfach ein tolles Angebot, weil es noch zentral ist und es einige Möglichkeiten bietet.

Ist Neukölln für Sie ein Wohnort oder auch Lebensmittelpunkt, wo Sie tatsächlich Ihre Zeit verbringen?

Es ist definitiv mein Lebensmittelpunkt. Ich mag es sehr. Neukölln, oder generell Berlin, ist eine Stadt, in der du viel weniger auf deine Optik festgenagelt wirst. Ich habe 13 Jahre in München gelebt, bin aber im Ruhrgebiet groß geworden. Deshalb hatte ich hier das Gefühl, wieder aufatmen zu können. Jeder kann rumlaufen wie er will und es wird weniger geposed. Zwar gibt es hier diesen „Neuköllner Chic“, bei dem man so tut, als ob man gar keinen Wert auf Optik legt. Aber trotzdem ist es realer. Ich bin bewusst und gerne nach Neukölln gezogen.

Das Festival steht unter dem Motto „Endstation Paradies“. Ist das für Sie Neukölln?

Ich glaube, es ist ein bisschen Zynismus dabei. Man spielt mit Begrifflichkeiten. Hier gibt es sehr viele Menschen, die harte Zeiten durchleben. Neukölln ist total kreativ, inspirierend und irgendwie bekloppt auf eine wahnsinnig schöne Art. Aber es wäre total realitätsfremd es so hochzustilisieren, dass man nicht sieht, welche Menschen um einen herum leben. Dass du ganz viele Menschen hast, die nicht viel Geld haben, die oft auch Alkoholprobleme haben oder andere Probleme. Endstation Paradies? Da würde man vielen Leuten, die echt eine Scheißzeit haben in Neukölln, unrecht tun.

Es gibt viele Leute, die hier wegziehen müssen, weil sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Beschäftigt Sie das Thema?

Es ist natürlich ein Thema für mich, weil sich sehr viel ändert. Man kann sich dem nicht entziehen und es ist eine Realität, die es in allen Städten gibt. Vor ein paar Monaten habe ich das bei der Wohnungssuche mitgekriegt. Da war ein Haus, das renoviert wurde und die Maklerin meinte: Ja, machen Sie sich keine Sorgen, die Familie unter Ihnen, die haben schon gekündigt. Die können sich die Wohnung nicht mehr leisten. Das war schon eine straighte Ansage. Sowas ist für die Betroffenen natürlich dramatisch.

Und Sie können sich das leisten.

Genau. Ich gehöre zu denen, die bewirken, dass der Stadtteil teurer wird, weil ich ein bisschen mehr zahlen kann. Aber was macht man da? Es ist eine Pattsituation. Man muss aufpassen, dass man nicht sagt: Ach, das ist so pittoresk und so schön und lebendig und multikulti. Man muss die Menschen auch sehen, die hier schon immer gelebt haben, seit 20, 30 Jahren, und die nicht hip sind.

Neukölln ist immer ein Ort der Zuwanderung gewesen, das Festival steht unter dem Zeichen der Gründung des Böhmischen Dorfes vor 275 Jahren. Kann man an so einem Ort, der stets im Wandel ist, eine Heimat finden?

Ich persönlich mache Heimat stärker an Menschen fest. Heimat kann natürlich auch ein Stadtteil sein, aber ich glaube, das ist eher bei Kindheitserinnerungen so. Die Plätze seiner Kindheit betrachtet man mit Nostalgie. Aber wenn das der Stadtteil ist, in dem man aufgewachsen ist, sind diese Veränderungen viel dramatischer. Ich bin erst ein paar Jahre hier und kann das gar nicht so beurteilen, aber dieses Problem oder diese Auseinandersetzung wird überall stattfinden. Kein Stadtteil bleibt, wie er war. Ich glaube, es gibt viele Menschen, die Neukölln ihre Heimat nennen. Für mich ist es eben meine Wahlheimat, in der ich mich sehr wohlfühle.

Wissen Sie schon, was Sie sich bei 48 Stunden Neukölln ansehen werden?

Nee, noch nicht. Ich guck mal, was mir so empfohlen wird. Ich werd auch ein bisschen „go with the flow“ machen, weil ich manchmal einfach Lust habe, durch die Gegend zu laufen und zu sehen, was es alles gibt. Ich lass‘ mich da gerne treiben.