Das Orakel von Neukölln

KÖ-10: Auf der Suche nach Erleuchtung konfrontierten wir das Neuköllner Orakel mit den wichtigsten Fragen der Menschheitsgeschichte. Es wurde zu einer Offenbarung.

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Samstag, 16. Juni 2012

Über ein dunkles Treppenhaus gelangen wir an ihre Wohnungstür. Weiße Tücher wehen an der Pforte und wir treten ein. Drinnen tasten wir uns durch weißen Stoff und erreichen einen hellen Raum, der geschmückt ist mit bunten Aquarellen und Plastikblumen, die in den Fugen der Dielen festgesteckt sind. Dort vor uns, auf einem Schaukelstuhl, sitzt das Orakel von Neukölln in weißem Umhang und engelsgleichen Haaren.

Viele Pilger sind an diesem Nachmittag gekommen in den 3. Stock der Karl-Marx-Straße 206. Sie wollen Antworten. So wie wir. Doch zunächst müssen wir warten, ehe wir zur Audienz auf die Hollywoodschaukel vorgelassen werden. Dann wird endlich geschaukelt und wir fragen. Klassisch. „Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei, liebes Orakel?“ Das Orakel blickt in die Ferne, greift in die Brusttasche, setzt sich eine kaputte Ray-Ban-Sonnenbrille auf und legt uns eine japanische Münze in die offene Handfläche. Dann sagt es: „Ein Huhn braucht ein Nest, um ein Ei zu legen.“ Somit sei die Erde zuerst da gewesen. Gott hätte den Rest besorgt.

Buschkowsky wird zurücktreten müssen!

Das hypnotische Schaukeln entspannt. Wir gehen tiefer. Fragen über Zukunftsängste ploppen aus unserem Mund: „Wird Neukölln bald reich und sexy?“ Da muss das Orakel nicht lange überlegen. „Neukölln bleibt Neukölln. Für immer. Es werden viele kommen und viele wieder gehen.“ Und Buschkowsky bleibt die nächsten zwanzig Jahre Bürgermeister? „Er wird nächstes Jahr zurücktreten müssen, aus gesundheitlichen Gründen.“ Wir sind überrascht von so viel klarer Ansage. Eine Frage noch: „Wird die Hertha nächstes Jahr aufsteigen?“ „Nein, sie bräuchten mehr Leute, die weniger Ahnung von Fußball haben. Vielleicht mal eine Frau.“ Und Europameister? „Italien.“ Auweia!

Wir sind traurig, aber auch baff und schwingen weiter in Trance auf der Hollywoodschaukel. Dann gehen uns die Fragen aus, außerdem wollen wir des Orakels Zeit nicht verschwenden. Zum Abschied bekommen wir noch ein Geschenk aus ihrem Jutebeutel überreicht, ehe der nächste Pilger an unseren Platz tritt, mit der Hoffnung auf Erleuchtung. Worum es sich bei diesem Präsent handelte, bleibt allerdings unser kleines Geheimnis.

KÖ-10, Sa 15-22 Uhr, So 15-19 Uhr, Karl-Marx-Straße 204-206, Hinterhaus, 3.OG

Quietschbunt mit Kronleuchtermobile: Die Wohnung des Orakels.