„Wir können hier auch Kultur“

Foto: Georg Herrmann

Foto: Georg Herrmann

Seit 34 Jahren lebt Martina Rummel in Neukölln. Als der Spiegel Ende der 90er den Bezirk mit der Bronx verglich, wollte sie dem etwas entgegensetzen – und rief in ihrem Wohnzimmer einen Neuköllner Debattiersalon ins Leben, bei dem jedes Thema erlaubt ist. Alle ein bis zwei Monate findet er statt und geht bald in die 195. Runde. (mehr …)

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Montag, 4. April 2016

neukoellner.net: Martina, was hat es mit deinem Salon auf sich?
Martina Rummel:
Dahinter steckt die Motivation, dass Freunde und Bekannte mal richtig ausholen können und in einem Vortrag beschreiben oder darstellen, was sie beruflich machen oder was sie interessiert. Damit man sich anders und neu kennenlernt. Normalerweise geht das fünf Minuten am Tisch, dann wandert das Gespräch weiter. Ganz anders beim Salon. Ich bin immer wieder begeistert, was man da alles erfährt. Wer Musik macht, spielt Konzerte, wer Zimmermann ist, erklärt wie ein Dach gebaut wird und wer Polizist ist, beschreibt seinen Alltag. Es ist unglaublich, was Leute zu erzählen haben, wenn man sie nur lässt.

Wie ist die Idee zum Salon entstanden?
Mein damaliger Mann hatte ursprünglich den Gedanken, dass wir uns gemeinsam mit Freunden immer zu einem fixen Termin treffen – die Idee hatte er aus den Tagebüchern des Schriftstellers Viktor Klemperer. Das war zu der Zeit, als der Spiegel in einem seiner Artikel Neukölln mit der Bronx verglich. Wir hatten den Impuls, dem etwas entgegenzusetzen, wir können hier doch auch Kultur! Und so fand Anfang Juni 1998 der erste Salon statt, zuerst zum Thema Wirtschaftsethik, später dann zu zahllosen Themen aus allen möglichen Bereichen. Vier Salons hatten wir geplant, danach wurde es zum Selbstläufer, zu einer echten Neuköllner Pflanze. Freunde, Arbeitskollegen, Bekannte und Freundesfreunde kommen vorbei, tragen vor oder hören zu. Jeder kann das mit seinen Freunden machen. Inzwischen haben Leute aus über dreißig Ländern teilgenommen, deshalb haben wir uns in „Internationaler Salon“ umgetauft.

An welche Veranstaltung aus fast 200 Neuköllner Salon-Abenden denkst du besonders gern zurück?
Es gab einen Abend, der verantwortlich dafür war, dass wir Goethe zu unserem Mentor erhoben haben – seitdem stellen wir jedem Salon ein Goethe-Zitat voran. Der Dolmetscher und Sprachkünstler Johannes Hampel, der den „Faust“ auswendig kann, bot uns eine Lesung an. Weil es ihm zu langweilig war, nur zu rezitieren, hat er uns ein fiktives Geschäftsmodell vorgestellt – den Umbau des Palasts der Republik zum Faust-Themenpark für Touristen. Wir durften ihm Fragen dazu stellen, über Unterhaltung, Essen, Sex, einfach alles. Aus dem Stegreif hat er dann mit Faust-Zitaten geantwortet. Wir haben zwei Stunden lang geschrien vor Lachen. Und das erste Gesprächskonzert mit dem Pianisten Boris Schönleber, der eine Beethoven-Sonate für uns auseinandergenommen hat, war der Auftakt zu unglaublichen Konzerten mit fantastischen Musikern. Einmal hatten wir  einen Stalingrad-Überlebenden als Referenten. Ich kann so vieles aufzählen. Jeder Salon beeindruckt mich auf seine Weise, ich will keinen missen.

Wie erfahren die Leute vom Salon und wie läuft er ab?
Es gibt einen privaten E-Mail-Verteiler, allerdings ein sehr großen. Meistens haben wir zwischen zehn und fünfzig Besucher. Der Salon ist aber keine öffentliche Veranstaltung, das würde ich nicht wollen. Der Vortrag geht dann ungefähr zwei Stunden, anschließend gibt es ein Buffet – mitgebrachtes Essen ist die Eintrittskarte für den Salon. Festgelegte Themen gibt es nicht, sonst hätte ich womöglich nie was über das Dreiliter-Auto, die Kunst der Aborigines, Altbausanierung oder Stottertherapie erfahren.

Du lebst seit mehr als der Hälfte deines Lebens in Neukölln. Wie hat sich der Bezirk in den letzten dreißig Jahren verändert?
Neukölln ist immer ein Arbeiterbezirk gewesen. Nach der Wende ist er richtig abgestürzt zu einem Bezirk von Sozialhilfeempfängern. Die türkischen und arabischen Migranten, die offenbar nicht in andere Bezirke ziehen durften oder wollten, haben sich hier tapfer durchgeschlagen. Die alteingesessenen Geschäfte wie Kießling, Koffer Panneck und die Bickartzsche Buchhandlung sind verschwunden – die Regale der Buchhandlung stehen bei mir in der Wohnung. Inzwischen geht es wieder bergauf, es kommen mehr junge Leute, die ein bisschen Bildung mitbringen.

Welche Veränderung hast du als besonders schön wahrgenommen?
Es ist internationaler geworden, man hört nicht mehr nur Deutsch, Türkisch und Arabisch, sondern auch viel Englisch, Spanisch, Italienisch auf der Straße. Die Migranten der dritten Generation haben sich etabliert und stellen Bäumchen vor ihre Cafés. Es haben sich Bioläden angesiedelt, es gibt wieder einen Buchladen und auch die Neuköllner Oper bringt Kultur in den Kiez.

Und auf welche Veränderung kannst du gut verzichten?
Auf zunehmende Drogenprobleme, Betteln mit Kindern, private Müllentsorgung wo es beliebt, Schließung von alteingesessenen Läden wegen explodierender Mieten, die Mutation der Hauptstraßen in Geldwaschanlagenmeilen … da gibt’s einiges. Und wer weiß, irgendwann ist es vielleicht auch mit unserem Salon vorbei – alles hat seine Zeit. Erstmal bin ich aber sehr zuversichtlich, dass ­wir in diesem Jahr unser 200. Jubiläum feiern können.

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