„Jeder muss etwas hineingeben!“

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Der Projektleiter des Sharehauses: Sven Lager. (Foto: Cara Wuchold)

Das Sharehaus in der Lenaustraße bietet Studenten, Einheimischen und Geflüchteten ein Zuhause. Projektleiter Sven Lager und seine Mitarbeiter sorgen aber nicht nur für Wohnraum, sondern auch dafür, dass sich alle in die bunte Gemeinschaft mit einbringen. Eine Geschichte über ein mutiges Experiment, das Vorleben von Gemeinschaft und einer afrikanischen Idee.

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Montag, 27. Juli 2015

Eine zugetaggte Hauswand in der Lenaustraße, zwei blau gerahmte Schaukästen links und rechts und dazwischen die gläserne Tür mit einem langem Griff. Ein Aufsteller verrät, dass es hier zum „Refugio“ geht, einem sogenannten Sharehaus, in dem Einheimische zusammen mit Geflüchteten leben. Eine komplizierte Klingelanlage mit Codesystem verrät keine Namen, aber die Tür ist offen – also rein. Das Foyer ist riesig und unfertig, eingeschweißte Möbelstücke stehen herum. Nach ein paar Minuten taucht jemand im Treppenhaus auf und weist den Weg zum Büro. Vier Stockwerke hoch mit dem Aufzug, das ganze Gebäude ist barrierefrei, denn hier war früher mal ein Seniorenheim der Berliner Stadtmission.

Zwei Drittel der Bewohner sind Geflüchtete

In dem Bürozimmer zum Hof – die Fenster weit offen zur Brandmauer des Nachbarhauses, von unten bis oben grün berankt – telefoniert Denise Lillge, sie arbeitet fürs „Refugio“. Sie hatte nicht mit Besuch gerechnet, packt sich trotzdem kurzentschlossen ein Schlüsselbund, und führt durchs Haus: Es gibt sechs Etagen. Singles, Paare oder Familien aus Syrien, Afghanistan, Nigeria, Türkei, Bosnien und Kroatien bewohnen zwei davon. 60 bis 70 Prozent der Hausbewohner sind Geflüchtete – auch wenn nicht alle den Flüchtlingsstatus haben –, die übrigen sind Einheimische, wenn auch nicht immer mit einem deutschen Pass. Daneben gibt es ein Geschoss mit Künstlerateliers und eine Studentenetage. Die waren schon vorher da. Zieht ein Student aus, übernimmt ein Geflüchteter das Zimmer.

Zurück im Erdgeschoss treffen wir auf Andy, ausgebildeter Theologe und Barista, hier wird er auch „Pfarrista“ genannt. Er leitet das „Refugio“-Café, das im September eröffnet und zusammen mit den Geflüchteten betrieben wird. Die Angebotstafel hängt schon, ansonsten ist noch nicht viel an seinem Platz. Gerade hat Andy die Nachbarn kennengelernt, die einen vollausgestattenen Küchenraum vermieten. Vielleicht könne man kooperieren, meint Andy, aber erst mal anfangen und dann weitersehen.

Den Gedanken aus Afrika mitgebracht

„Die Leute kommen mit so vielen Ideen, aber die dann auch strukturiert umzusetzen, das ist gar nicht so leicht“, Sven Lager ist Projektleiter und schaut ein bisschen müde aus, als er das sagt. Wir treffen ihn auf dem Hausdach – er hatte gerade eine Besprechung mit ehrenamtlich arbeitenden Architekten, einer Frau vom Quartiersmanagment und weiteren Unterstützern, um Pläne für die Begrünung zu machen. In einem Landschaftsarchitekturseminar werden diese dann weiter gesponnen und der Garten gebaut. Das Dach ist groß und der Blick weit, ein Bewohner sitzt an einem großen Holztisch und lernt.

Den Sharehaus-Gedanken hat Sven Lager mit seiner Frau – beide Schriftsteller – und seinen Kindern aus Afrika mitgebracht. Zehn Jahre lebten sie dort. „Da haben wir gesehen, dass sehr viele Leute wirklich wenig haben, und dann eigentlich ebenbürtig teilen.“ „Ubuntu“ wird das dort genannt, was so viel wie Menschlichkeit, Nächstenliebe und Gemeinsinn heißt. „Dem einen fehlt gerade mal das Geld, der andere hat kein Auto, wieder einer hat seine Wohnung verloren – also da wird schon sehr geholfen. Weil man auch weiß, dass man selber mal bedürftig sein könnte.“

Lagers Familie lebt mit im Sharehaus

Seit einem Jahr sind sie zurück und konnten die Berliner Stadtmission von ihrer Idee überzeugen. „Die haben sich auf ein Experiment eingelassen, was schön verrückt war. Ein Laden, in dem man jeden wertschätzen und fördern will, erstmal ohne ein Programm.“ Jetzt leben sie selber mit im Haus. Wie dient man den Ärmsten, wie verändert man eine Gesellschaft? Diese Fragen teilen sie mit der Stadtmission. Sven Lager widerstrebt die Hilfe, die Leute in Abhängigkeit bringt. „Ein Geflüchteter kommt und braucht natürlich erst mal Unterstützung, im Sinne von Obdach, Essen. Aber jeder Mensch, ein Geflüchteter oder ein Obdachloser, wer auch immer, bringt einen Reichtum mit. Das ist eine Herzenshaltung. Man muss verstehen, dass man nicht besser ist als die anderen.“ Sein offener Blick unterstreicht, dass er meint, was er sagt.

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Der Dachgarten des Sharehauses. (Foto: Cara Wuchold)

Sven Lager ist Christ – in Afrika geworden – auch da klappt die gegenseitige Bereicherung mit der evangelischen Stadtmission. Unten im Haus ist eine große Kapelle, da hält das Kreuzbergprojekt, eine junge, evangelische Freikirche, jeden Sonntag Gottesdienst. Das Sharehaus bezeichnet Sven Lager als ein Projekt gelebten Glaubens. „Das beweist sich dadurch, dass wir zum Beispiel sehr viele muslimische Flüchtlinge haben, die hier wohnen. Man muss als Christ verstehen, dass man in jedem Menschen, egal ob er Christ ist, Gott sieht. Und nicht arrogant ist und sagt, ich weiß was Besseres.“ Wertschätzung ist ein Hauptwort im Sharehaus, insofern lässt sich das Ganze auch auf Begriffe bringen, die überkonfessionell oder außerkirchlich funktionieren.

Alle müssen mit anpacken

Gemeinschaft, das ist noch so ein Wort. „Es geht auch darum, dass wir keine Sozialarbeiter im Haus haben, sondern Menschen, die sich gegenseitig helfen“, so Sven Lager, die Hände in den Taschen seines grauen, leicht verblichenen Kapuzenpullis vergraben. Im Haus muss noch viel passieren, das packen sie alle zusammen an. Auch wenn es nicht immer leicht falle, alle zu motivieren. Dass nicht alles für sie geregelt werde, müssten manche erst lernen.

Die Wohnzeit hier ist auf eineinhalb Jahre begrenzt. Und alle Bewohner haben Ziele für sich benannt. Eins gilt für alle: Deutsch zu lernen, das ist die Hauptsprache im Haus. „Jeder muss sich überlegen, was er oder sie in das Haus hineingeben kann“, erklärt Sven Lager. „Das war die Bedingung für dieses Projekt. Denn wir bieten nicht nur Wohnraum, wir wollen ja auch, dass alle Menschen, die dann weiterziehen – geflüchtet oder nicht geflüchtet –, ein neues Verständnis von Gemeinschaft haben, das sie überall leben können. Das ist im Kleinteiligen gar nicht so leicht, aber im Großen hat das eine Dynamik, die alle mittragen und die toll ist.“

Auch wenn Details manchmal mühsam sind, die Euphorie ist Sven Lager anzumerken. „In Deutschland wird immer von der Flüchtlingskrise gesprochen, wir sehen darin eine Gelegenheit! Wir könnten das sogenannte Problem durch selbst verwaltete Gemeinschaftshäuser viel kreativer lösen. Und das müssen wir jetzt mal vorleben.“

Das Sharehaus „Refugio“ liegt in der Lenaustraße 3-4 in Nord-Neukölln.

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