Neukölln, du kleiner Melting Pot

Franziska Giffey beim Besuch im Boehmischen Dorf am 16. August 2016.

Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey (li.) führte US-Botschafter Emerson durch Rixdorf.

Wie wirkt Neukölln auf den US-amerikanischen Botschafter? Er und seine Familie haben den Bezirk einen Tag lang besucht und den amerikanischen Traum vorgefunden. Aber auch die vorherrschende Probleme sind ihnen bewusst geworden. (mehr …)

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Dienstag, 23. August 2016

Text: Marlene Brey, Fotos: Emmanuele Contini

John B. Emerson, Botschafter der USA in Berlin, spaziert über Neuköllner Asphalt. Gemeinsam mit Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey macht er einen Rundgang zum Thema „Immigration als Chance“. Es hat sich herumgesprochen, dass man an diesem Ort für so manches Problem, das nun deutschlandweit diskutiert wird, bereits Lösungen erprobt hat.

Der Diskurs wirkt ein wenig verstaubt, wenn eine Journalistin den türkischstämmigen Besitzer des Café Ole, Sezer Yigitoglu, nach typisch türkischen Speisen fragt und sein Dolmetscher antworten muss, dass man eher vegetarische und vegane Gerichte anbiete, weil das ist, was dem Neuköllner Publikum schmeckt. Dieses Publikum hat einen hohen Migrationsanteil: Viele Amerikaner, Israelis, Italiener und Franzosen sind unter ihnen. Das Phänomen hinter dem Begriff Migration hat sich in Neukölln verändert. Auch Sezer Yigitoglu braucht nicht etwa einen Dolmetscher, weil er kein Deutsch spricht, sondern weil er taubstumm ist. Weil er taubstumm ist, konnte er auch keinen Job finden. Da haben ihm Freunde vorgeschlagen, sich mit einem Café selbstständig zu machen.

Ein Mann, der aufgrund seiner Behinderung keine Anstellung findet, schafft sich selbst einen Arbeitsplatz und damit ein kleines Unternehmen. Das ist die Geschichte, die US-Botschafter Emerson tief beeindruckt. Es sei eine wichtige Lektion, dass alle Menschen etwas zur Kultur und zum Wachstum eines Ortes beitragen können – ungeachtet dessen, ob sie eine Behinderung oder einen Migrationshintergrund haben. Seine Frau Kimberly Emerson ergänzt, es sei auch eine Lektion, sich nicht von seinen Träumen abhalten zu lassen. Da ist er, der American Dream. Der Botschafter weiß, dass die US Wirtschaft stark von diesem unbedingten Willen der vielen Einwanderer profitiert hat. In Deutschland sagen Statistiken das Gleiche, aber der öffentliche Diskurs gibt noch ein etwas verzerrtes Bild wieder.

Einwanderungsland vs. Land der Gastarbeiter

Die USA verstehen sich als Einwanderungsland. Deutschland war dagegen lange das Land der Gastarbeiter. Es hat immer einen Unterschied gemacht zwischen den einen und den anderen, die hier leben. Migration war vieles, mal Problem, mal Chance, aber eines war sie nie: ganz normal. Für Amerikaner ist das anders. Und für Neuköllner auch. Neukölln hat einen Migrationsanteil von 40 Prozent. In einigen Schulklassen beträgt er bis zu 90 Prozent.

Der Botschafter besuchte auch das Unternehmen von Kaya Tiglioglu (Mitte), einem türkischen Einwanderer.

Viele Migranten kamen in den 50er-Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland und blieben für immer. Ihre Kinder und Enkel sind in Deutschland geboren. Sie machen Neukölln zu dem, was es ist und werden dennoch weiter als Migranten bezeichnet. Viele von ihnen haben sich selbstständig gemacht. Dabei beschränkt sich ihre unternehmerische Tätigkeit nicht auf Dönerbuden. Das zeigt zum Beispiel ein Besuch bei ISOGON. Kaya Tiglioglu ist türkischer Einwanderer und hat das Unternehmen 1992 gegründet. Hier werden Fenster produziert, deren Qualität die Ansprüche erfüllen, die Kunden an das „Made in Germany“ richten. Das Unternehmen hat 40 Angestellte.

Natürlich gibt es auch eine andere Seite des Bezirks. In Neukölln gibt es arrangierte Ehen und sogar Zwangsehen. Ein dramatisches Problem für die Betroffenen. Im Mädchentreff MaDonna kämpfen sie dagegen an. Hier engagieren sich junge Frauen, die selbst Migrationshintergrund haben, für die Rechte von Frauen. Sie wissen wovon sie sprechen und sie wissen, wie man darüber mit den Betroffenen sprechen kann. Sie reden nicht von Leitkultur und wollen keine Kultur verändern, wohl aber Traditionen, die nicht haltbar sind. Die Probleme und Lösungen in diesem Spannungsfeld um Migration sind oft Probleme, die etwas mit Herkunft zu tun haben. Aber die Frage der Herkunft bezieht sich in vielen Fällen nicht allein auf die der Einwanderung, sondern auf die finanziellen Verhältnisse. Das Betrifft die Einrichtungen und die Individuen, denen diese helfen wollen. Die Arbeit von MaDonna wird nicht nur von Traditionen belastet, sondern auch von Geldmangel: Die NGO hat 1,5 bezahlte Mitarbeiter. Auch Franziska Giffey erklärt, die entscheidende Frage sei nicht die nach dem Migrationshintergrund, sondern es sei die soziale Frage, denn viele Kinder in Neukölln sind von Sozialleistungen abhängig.

Wie weit gehen die Probleme in einem solchen Bezirk? Emerson fragt nach der Angst vor Terrorismus und Giffey winkt ab. Das ist es ja. Wer hier wohnt, der weiß, dass auf der Karl-Marx-Straße nur das Geschäft mit dem Döner explodiert. Mehr nicht. Angst ist immer etwas Diffuses. In einem Stadtteil in dem Migration etwas so Konkretes und Normales ist, ist kaum Platz für Angst. Das soll nicht heißen, dass Multi-Kulti von alleine läuft. Das glaubt vielleicht die linksintellektuelle Parallelgesellschaft. Probleme zu verschweigen, würde nur bedeuten, dass man sie nicht bearbeiten kann. Wer einmal in Neukölln war, der weiß, dass hier nichts beschönigt wird. Die Hundehaufen liegen ehrlich auf der Straße. In Neukölln kennt man die Probleme und das nicht erst seit gestern.

Seit über 275 Jahren ein Ort der Migration

In Neukölln laufen viele Geschichten von Menschen zusammen, die ihre Heimat verlassen und an diesem Ort ein neues Zuhause gefunden haben. Das Museum im Böhmischen Dorf zeigt, welch lange Einwanderungsgeschichte der Bezirk hat. „Neukölln ist seit über 275 Jahren ein Ort der Migration“, erklärt Cordelia Polinna. Um das Museum herum beherbergen die schmalen Straßen noch immer die Siedlungen der Böhmischen Flüchtlinge, die sich ab 1737 hier ansiedelten. Die dörflichen Strukturen aus dem 18. Jahrhundert sorgen dafür, dass mitten in Neukölln, unweit der Sonnenallee – der sogenannten arabischen Straße – ländliche Häuser mit blühenden Gärten stehen. In einigen der Häuser wohnen noch Nachfahren der böhmischen Einwanderer. Nicht weit entfernt, im ehemaligen C&A Kaufhaus an der Karl-Marx-Straße leben Menschen, die erst vor kurzem aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan geflohen sind. Die Geschichte der Migration nach Neukölln geht weiter.

Aber nicht jeder Mensch, der eine Grenze überquert, ist ein Migrant. „Sie leben im Ausland, würden Sie sich eigentlich als Migranten bezeichnen?“ Der US Botschafter hat eine diplomatische Antwort parat: „Ich bin der Sohn einer kanadischen Einwanderin, aber in Deutschland bin ich ein Gast – ein willkommener Gast.“ Das zeigt, was Menschen mit Migrationshintergrund auch sind: eine gesellschaftliche und politische Konstruktion. Amerikaner und Franzosen werden selten als Migranten betrachtet. Türken und Italiener dagegen schon. Manche können Grenzen mühelose überqueren, andere werden aufgehalten.

Die Elite war schon immer mobil. Der Botschafter lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Berlin. Die dritte studiert in den USA. Seine Töchter sind migriert und dennoch keine Migrantinnen. „Würdest du sagen, dass du gut integriert bist?“ „Oh ja, auf jeden Fall“, antwortet eine der Töchter in perfektem Englisch. Sie sei zwar auf eine internationale Schule gegangen und habe eher internationale Freunde, aber sie habe viele Orte und Menschen in Deutschland kennengelernt, liebe Berlin und möchte später hier leben. Dieses Mädchen spricht kein Deutsch und hat sich der Kultur dieses Landes nicht angepasst, denn sie ist viel zu höflich für eine echte Deutsche. Dennoch würde niemand von ihr verlangen, sich besser zu integrieren. Es stellt sich also auch die Frage: Wer ist ein Migrant? Und bleibt man es 30 Jahre oder über drei Generationen hinweg?

US Botschafter, Familie und Franziska Giffey beim Besuch im Boehmischen Dorf am 16. August 2016.

Auch das Böhmische Museum von Brigitta Polinna (re.) stand auf dem Programm.

Der US-Botschafter und seine Familie besuchen das Rathaus und tragen sich ins goldene Buch ein. Emerson betont, dass Neukölln eine außergewöhnliche Bürgermeisterin habe. Franziska Giffey hat den Bezirk mit seinen Problemen und seinen Potenzialen vorgestellt. Neukölln hat damit eine wertvolle Ressource. Es ist Expertise. Der sogenannte Problembezirk hat einen seltenen Erfahrungsschatz. Andere Städte in Deutschland und Europa können von den Erfahrungen profitieren, die man hier längst gesammelt hat. „Die Probleme, vor denen viele Städte in Deutschland und Europa jetzt stehen, sind bei uns seit vielen Jahren bekannt. Wir haben einige Lösungen, die man auch an anderen Orten ausprobieren kann.“ Emerson bestätigt das. „Ich komme aus Los Angeles, wo an den öffentlichen Schulen mehr als 80 Sprachen gesprochen werden. Viele Probleme, die es in Neukölln gibt, sind vergleichbar mit unseren. Ich bin sehr beeindruckt von der kreativen und aufmerksamen Weise, wie der Bezirk die Probleme angeht. Eine Art, die positiv und ermutigend auf die Bevölkerung wirkt.“

Neukölln – Eine alte Erfolgsgeschichte

Gelungene Integration macht sich für beide Seiten bezahlt, das hat man in Neukölln bereits erfahren. Die böhmischen Flüchtlinge, die aufgrund ihres Glaubens vertrieben wurden und sich auf Einladung Friedrich Wilhelm I. hier ansiedeln konnten, dankten es dem Bezirk, indem sie bis heute das ursprüngliche und wunderschöne Rixdorf erhalten haben. Denn während viele Bauern ihr Land zu Zeiten der Industrialisierung für den Bau von Hochhäusern verkauften, hielten diese Menschen an ihrem Land fest. Eine der heutigen Bewohnerinnen ist Brigitta Polinna. Sie ist sozusagen Böhmischer Flüchtling in der siebten Generation. „Würden sie sagen, dass sie einen Migrationshintergrund haben?“ „Nein“, sagt sie. „Ich fühle mich privilegiert, dass ich hier leben darf.“ „Schließt sich das denn aus, privilegiert sein und einen Migrationshintergrund haben?“ „Nein“, antwortet sie erneut. Na eben. Neukölln hat viele Erfolgsgeschichten über Menschen zu erzählen, die migriert sind. Sie sollten weitergesagt werden.

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Kommentare:

  • Bla sagt:

    Ja, ganz nett. Und die Bürgermeisterin konnte sich mal wieder in Szene setzen. Wird ja auch dankbar aufgegriffen.

    Schade hingegen, dass nicht im Ansatz die „90 Prozent Migrationshintergrund“ in einigen Schulklassen problematisiert werden. Denn es bringt riesige Probleme mit sich. Miserable gesundheitliche Werte, Schulabbrecher, Kriminalität und Gewalt unter Jugendlichen, Drogenkonsum und -handel, religiöse Radikalisierung. Dass alles ist bei Migranten stärker vertreten als in allen anderen Bevölkerungsgruppen. Insbesondere bei denen aus arabischen Ländern und der Türkei. Das ist kein Gefühl, Sorge oder Wut, sondern eine Tatsache, gegen die man nicht mit netten Fotos und einzelnen Aufsteigerstorys (die gibt es zum Glück) ankommt.

    Und wenn sich dann – so mein Fazit – eine Bürgermeisterin, deren Partei seit Jahrzehnten Politik im Bezirk verantwortet, hinstellt und meint, die Mischung im Bezirk sei doch toll, das müsse doch so bleiben, hat jemand gewaltig nicht aufgepasst.

    Toll wäre es doch, wenn die Politik zu besseren Verhältnissen beiträgt, anstatt auf Fototerminen am laufenden Band in die Kamera zu lächeln. Wo ist das Konzept, wo die Strategie der Bürgermeisterin? Bisher beschränkt sie sich auf das untaugliche Konservieren gescheiterter Strukturen (–> Milieuschutz). Und wo bleibt der kritische (sic!) Journalismus, der solche Fragen stellt?

    Da kann Neukölln mehr. In einigen Bereichen zeigt der Bezirk es auch. Auch da darf kritischer Journalismus mal hinsehen. Ich denke, er muss es sogar, will er nicht irgendwann einmal nur noch als Anhängsel linker Parteipolitik verstanden werden. Wäre doch schade, gell?

  • Anonymous sagt:

    who gives a shit?