Problembezirke unter sich

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Foto: Boris Bocheinski

Politiker, Jugendarbeiter und Schüler aus Neukölln tauschten sich zum dritten Mal mit Kollegen und Jugendlichen aus dem Pariser Vorort Clichy-sous-Bois aus. Eine Gemeinsamkeit: das schlechte Image, gegen das es zu kämpfen gilt. 

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Mittwoch, 6. April 2011

Von Regina Lechner und Cara Wuchold

Clichy-sous-Bois ist der Ort, in dem 2005 zwei Jugendliche durch einen Stromschlag ums Leben kamen, als sie sich in einem Trafo-Häuschen vor der Polizei versteckten. Der Tod der beiden Jungs, tunesischer und mauretanischer Herkunft, führte zu heftigen Unruhen. Es hieß, die ausländerfeindliche Staatsgewalt habe sie in den Tod getrieben. Erst brannten Autos und Gemeindeinrichtungen in Clichy, einem Vorort von Paris, dann breitete sich die Randale auf andere Orte im Großraum um die französische Hauptstadt aus. Und irgendwann diskutierte ganz Frankreich, ja ganz Europa über die Verhältnisse in den Banlieues und die „verlorene Generation“, die hier heran wächst, ohne Perspektive auf eine gute Ausbildung oder einen besser bezahlten Job. Immer lag der Fokus auf Clichy-sous-Bois, das die Medien zum sich selbst überlassenen Ghetto stilisierten. Die trostlosen Plattenbauten waren ein Symbol für die misslungene Integrationspolitik Frankreichs geworden. Doch anstatt Versäumnisse einzuräumen, erlebte Nicolas Sarkozy als militanter Innenminister seine große Stunde und schickte noch mehr Polizei in die brennenden Vororte.

Randale unterm Brennglas

Nach einigen Monaten, als sich die Lage in Frankreich langsam entspannt hatte, begann auch in Deutschland eine große Integrationsdebatte. Auslöser waren die Ereignisse an der Neuköllner Rütli-Schule. Die Lehrer setzten den Unterricht aus und verlangten die Schließung der Schule, da sie keinen Weg mehr sahen, der gewaltbereiten Jugendlichen Herr zu werden. Neukölln wurde zu Deutschlands bekanntestem Problembezirk, belagert von Journalisten, die das Ghetto suchten, genauso wie es die Auslandskorrespondenten zuvor in Clichy getan hatten. Und heute noch leiden Neukölln und Clichy-sous-Bois unter ihrem schlechten Ruf, auch wenn sich seither vieles verbessert hat.

Das bunte Leben auf den Straßen von Clichy-sous-Bois

In einem Modellprojekt tauschen sich die Stadtbezirke darüber aus, wie man mit Problemen umgehen kann und welche Maßnahmen erfolgreich waren. Im Jahre 2008 kam erstmals eine Delegation aus Clichy nach Neukölln. Zwei Jahre später organisierte das Deutsch-Französische Jugendwerk, gemeinsam mit dem Institut für Migrations- und Sicherheitsstudien und den örtlichen Verwaltungen eine Reise von Berliner Richtern, Polizisten und Sozialarbeitern nach Frankreich. Am vergangenen Wochenende waren nun wieder Vertreter aus Clichy zu Gast in Neukölln und diskutierten mit Lokalpolitikern und Fachkräften aus der Verwaltung und Jugendarbeit über die Themen Integration, Bildung und Prävention. Zur gleichen Zeit fand ein Schüleraustausch zwischen dem Lycée Alfred Nobel aus Clichy-sous-Bois und dem Albrecht-Dürer-Gymnasium aus Neukölln statt.

Austausch trotz Diskrepanz

Es gibt einige Gemeinsamkeiten zwischen den Stadtteilen. Ein hoher Anteil der Bevölkerung lebt von staatlicher Unterstützung, in Clichy sogar zwei Drittel der Einwohner, in Neukölln etwa die Hälfte. In den Sechzigern kamen viele Menschen aus den ehemaligen Kolonien in Nord- und Schwarzafrika in die Vororte der französischen Großstädte mit der Aussicht auf gut bezahlte Jobs in den Fabriken. In Deutschland glich man den Arbeitskräftemangel der wachsenden Wirtschaft mit Arbeitern aus der Türkei und den arabischen Ländern aus.

Arbeitsplätze in der Industrie gibt es in Paris und in Berlin kaum mehr. Doch die Familien sind geblieben, mittlerweile bereits in der dritten Generation. Das Miteinander von Kulturen, Religionen und Sprachen verläuft nicht immer reibungslos. Eine Besonderheit von Clichy oder Neukölln ist das nicht. Bei bestimmten Fragen stehen diese Orte jedoch immer wieder im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.

In der Fotoausstellung „Clichy sans Cliché – Clichy ohne Klischee“, die einen „anderen“ Blick auf den Alltag in den Banlieues vermitteln möchte und noch bis 30. April im Rathaus Neukölln zu sehen ist, blitzen Vergleichsmomente zwischen den Bezirken auf, aber auch Unterschiede. Zwölf bekannte Fotografen, darunter Magnum-Mitglied Marc Riboud, hielten 2006 das Leben in Clichy-sous-Bois fest. Ein Luftbild zeigt die grauen Hochhäuser des Pariser Vororts, die sich eng und trist aneinander reihen. Das könnte auch die Gropiusstadt sein, hat aber mit den Altbauten Nordneuköllns oder den Britzer Einfamilienhäusern wenig zu tun. Die bunten Gemüsemärkte auf den Straßen von Clichy erinnern an den Markt am Maybachufer. Breakdance und Graffiti sind bei Jugendlichen aus Neukölln und Clichy offensichtlich gleichermaßen beliebt. Doch ohne erklärende Texte bleiben viele Alltagsszenen auf den Fotografien im Unklaren. Um wen trauert die afrikanische Familie mit Tränen in den Augen? Braucht man hier einen Kampfhund, um sich hier Respekt zu verschaffen?

Die Bilder stehen für sich – doch die Hintergründe der Aufnahmen bleiben im Unklaren, ihre Protagonisten anonym.

Kampf gegen die Klischees

Ohne Hintergrundinformation besteht die Gefahr, dass sich die vorherrschenden Klischees sogar eher verstärken als dass sie beseitigt werden. Nur im Dialog lässt sich gegen Vorurteile vorgehen. Das merkten auch die Schüler des Neuköllner Albrecht-Dürer-Gymnasiums, als sie 2010 im Rahmen des Modellprojektes das Lycée Alfred Nobel in Clichy-sous-Bois besuchten. Dort standen sie vor einer massiven Stahltür und einem Sicherheitszaun, der das Schulgelände umgibt – und sahen sich zunächst in ihrer Vorstellung von der hoch gefährlichen Banlieue bestätigt. Dabei kämpfen sie selbst mit dem Bild ihres Stadtteils in den Medien, in denen es immer wieder um Schulverweigerer und jugendliche Gewalt in Neukölln geht. Erst nach dem Kennenlernen der französischen Schüler lösten sich ihre Vorurteile auf und sie erkannten, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Befangenheit helfen kann, den Vorurteilen anderer souverän zu begegnen. Zumindest lehrte sie diese Erfahrung, genauer hinzuschauen.

Hochbegabte in Neukölln

Die Albrecht-Dürer-Schule steht oft im Schatten des prominenten Campus Rütli, der sich zum Aushängeschild der lokalen Bildungspolitik gemausert hat. Dabei ist die Oberschule in der Emser Straße Teil des Konzepts zur Hochbegabtenförderung des Berliner Senats und pflegt eine Patenschaft mit der Deutschen Kinemathek, um Medienkompetenz zu fördern. Der Anteil von Schülern nicht deutscher Herkunft liegt mit 58 Prozent unter dem Neuköllner Durchschnitt. Nur 200 der 660 Schüler besitzen keinen deutschen Pass. Diese Zahlenspiele sind allerdings nur wichtig für jene, die das Miteinander verschiedener Kulturen als Nachteil verstehen. Doch für viele Eltern sind sie ausschlaggebend dafür, auf welche Schule sie ihre Kinder schicken. Für die Albrecht-Dürer-Schule gibt es inzwischen sogar eine Warteliste, so dass zukünftige Schüler ein Aufnahmeverfahren durchlaufen.

Austauschschüler in der Neuköllner Schulaula ©Boris Bocheinski

Opern für Pariser Vorstädte

Der Austausch mit Clichy-sous-Bois endete in diesem Jahr mit der Aufführung der gemeinsam erarbeiteten Theateradaption eines Stückes der französischen Autorin Yasmina Reza in der Neuköllner Schulaula, soll aber mit folgenden Jahrgängen wiederholt werden. Die Gespräche unter den Fachkräften aus Politik, Verwaltung und Sozialarbeit werden ebenfalls fortgesetzt. Nachbarschafts- und Elternarbeit, die Rolle der Frau oder Sicherheit sind als zukünftige Themen angedacht. Die Zweigleisigkeit – Fachkräfte und Jugendliche – zwingt die Initiative zu einem Spagat. Während die Politiker Perspektivlosigkeit der Jugend und Gewalt auf dem Schulhof diskutieren, sind dies keine Probleme, die den Alltag der Gymnasiasten prägen. Sie haben Zukunftsträume und engagieren sich in Schulprojekten. Die Forderungen, die Schüler aus Frankreich und Deutschland im Anschluss der Theateraufführung an Lokalpolitiker beider Länder stellten, zeigten zudem, dass die Situation in Neukölln und Clichy-sous-Bois nur bedingt vergleichbar ist.

Merkliche Unterschiede zwischen den Stadtteilen gibt es schon allein durch deren Größenunterschied: In Clichy-sous-Bois leben 30.000 Menschen, zehn Mal so viele in Neukölln. Ein Jugendlicher aus dem Pariser Vorort wünschte sich mehr Kinos, Theater oder gar eine Oper, wie es sie in Neukölln gibt. Und wenn das nicht möglich ist, so muss zumindest die Nahverkehrsanbindung an Paris verbessert werden, um die kulturellen Angebote in der Innenstadt erreichen zu können. Und wovon träumen Oberschüler in Neukölln? Sie wünschen ihrem Bezirk einen besseren Ruf, damit zukünftig vielleicht sogar Zehlendorfer an ihre Schule kommen. Doch angesichts der anhaltenden Berichterstattung über brennende Hausflure und Jugendkriminalität auf den Straßen heißt es da wohl geduldig sein.